[Rezension]
Ich bin ein wenig überrascht, wie wenig Aufmerksamkeit der komplexe und hochaktuelle Roman „Und zwischen uns ein Ozean aus Schweigen” von Joanna Ho in den Besprechungen der deutschen Kinder- und Jugendliteraturszene bisher auf sich zieht. In Amerika wurde er mit vielen Preisen bedacht, u.a. wurde er mit dem „Asian/Pacific American Award for Literature Young Adult Honor” ausgezeichnet und in die „Jr. Library Gold Standard Selection” aufgenommen. Der Roman ist nicht nur fesselnd geschrieben, sondern verhandelt auch Themen, denen sonst keine oder nur wenig Beachtung geschenkt wird: Rassismus gegenüber Asiat:innen und Suizid als Folge von verheimlichten schweren Depressionen.
Es scheint ein Wagnis, so sensible und schwierige Themen im Jugendbuch miteinander zu verbinden, aber Joanna Ho meistert diesen Balanceakt perfekt. Sie schafft ein glaubwürdiges Umfeld mit authentischen Charakteren und plottet hervorragend. Ihre Protagonistin ist May, eine typische amerikanische Teenagerin mit chinesisch-taiwanesischen Wurzeln.
Als Mays Bruder Danny Suizid begeht, bricht Mays Welt zusammen. Kurz darauf wird der asiatischen Community unterstellt, zu viel Druck auf ihre Kinder auszuüben, wodurch sie ihre Kinder in den Tod treiben und für einen Wettbewerb im Schulumfeld sorgen würde, der allen Schüler:innen schade.
Während ihre Eltern sich wegducken, schreibt May in einem Anfall voller Wut und Trauer einen Brief an die Lokalzeitung und wird in eine Auseinandersetzung hineingezogen, auf die sie nicht vorbereitet ist. Ihre Eltern fordern sie auf, zu schweigen und sich zurückzuziehen, denn nicht nur der Arbeitsplatz ihrer Mutter ist bedroht.
Aber May wünscht sich Gerechtigkeit für ihren Bruder Danny, dessen Tod ein riesengroßes Loch in ihr Leben gerissen hat, und möchte sich gegen die rassistischen Behauptungen wehren. Wird sie sich den Erwartungen ihrer Eltern beugen oder ihrer eigenen Überzeugung folgen, allen Konsequenzen zum Trotz?
Inhaltsverzeichnis
Mehr zum Inhalt
Die 16-jährige Maybelline Chen mag weder Kleider noch ist sie an einer Karriere in einem renommierten Unternehmen wie Google interessiert, wie ihre Mutter es sich für sie wünscht. May liebt ihre Kapuzenpullis und möchte Schriftstellerin werden. Ihr Bruder Danny hingegen wurde gerade in Princeton aufgenommen.
Als er plötzlich Suizid begeht, zerbricht ihre Familie. Ihre Mutter verkriecht sich wochenlang im Bett, ihr Vater verbarrikadiert sich hinter einer Mauer aus Schweigen.
May versteht Dannys Tod nicht. Danny war freundlich, aufgeschlossen und überall beliebt. Aus ihren Erinnerungen erfahren wir, wie sehr er Basketball und Breakdance liebte, wie gern er sang, Star Wars sah und Burger aß. May vermisst seine Albernheiten und seine liebevolle Zuwendung. Er war derjenige, der sie aufmunterte, an sie glaubte und ihr den Rücken stärkte.
Es dauert Wochen, bis sich die Familie durchringt, wieder am alltäglichen Leben teilzunehmen. Doch kaum hat sich ihre Mutter aus dem Tal ihrer Depressionen gekämpft, beschuldigt der lokale Silicon-Valley-Investor Nate McIntyre auf einer Veranstaltung der Sequoia Park Highschool asiatische Familien, ihre Kinder unter Leistungsdruck zu setzen:
„Wir wissen alle, dass irgendein asiatischer Junge letztes Schuljahr in Princeton angenommen wurde und sich dann vor den Zug geworfen hat. Ich bitte Sie. Was haben seine Eltern zu ihm gesagt? Wenn Princeton für diese Leute nicht gut genug ist, was dann? (…)
Jeder macht sich verrückt damit, politisch korrekt zu sein, aber ich habe keine Angst davor, zu sagen, dass die Asiaten das wahre Problem sind. Und ich weiß, dass die meisten von Ihnen genauso denken.”S. 101f.
Nate McIntyres widerliche Worte und die zustimmenden rassistischen Kommentare von anderen weißen Eltern und Schüler:innen lassen die Wut in May hell auflodern. Danny war so viel mehr als „irgendein asiatischer Junge” – er war „ein Bruder, ein Sohn, der Würde verdient hat” (S. 117).
Wütend und verletzt schreibt sie ein leidenschaftliches Gedicht an die Lokalzeitung. Sie rechnet nicht damit, dass es abgedruckt wird. Als es aber am nächsten Tag doch erscheint, löst es eine hitzige Diskussion über Rassismus aus. Auch Nate McIntyre wehrt sich und behauptet, er wäre kein Rassist und spräche nur die Wahrheit aus. Viele stimmen ihm zu.
May will diese Vorwürfe nicht hinnehmen. Sie will die Geschichte ihres Bruders erzählen. Unterstützung erfährt sie von ihrer besten Freundin Tiya und deren Bruder Marc, die haitianische und amerikanische Wurzeln haben und sich in der Black Student Union (BSU) der Sequoia Park Highschool schon lange im Kampf gegen Rassismus engagieren.
Es ist sehr schmerzhaft, als May erkennt, dass sie die rassistischen Verletzungen, die die Schwarze Community tagtäglich erfährt, bisher kaum wahrgenommen hat, und dass die Übergriffe auf Schwarze nie ein Thema zwischen Tiya und ihr waren. Aber May wird auch klar, dass nur Schweigen es Männern wie Nate McIntyre ermöglicht, die Deutungshoheit über Geschichten wie die von Danny zu gewinnen. Um McIntyres Narrativen etwas entgegenzusetzen, rufen May und ihre Freund:innen eine „Wir holen uns unsere Geschichten zurück”-Protestbewegung ins Leben. Sie wollen alle Familiengeschichten, die in der Vergangenheit ignoriert oder verschwiegen wurden, öffentlich teilen.
Dann aber kommt ihre Mutter mit schlechten Nachrichten nach Hause. Ihr Job ist gefährdet. Sie arbeitet für einen Freund von Nate McIntyre, und McIntyre lässt durchblicken, dass Mays Mutter gekündigt wird, sollte May weiterhin ihre Gedichte verbreiten. Deshalb fordern ihre Eltern May auf, sich zurückzuziehen.
May muss sich entscheiden. Engagiert sie sich weiterhin gegen den Willen ihrer Eltern und riskiert, dass ihre Mutter den Job verliert? Oder wendet sie sich von ihren Freund:innen ab und lässt diese enttäuscht zurück?
Zur Themenvielfalt des Romans
Ich bewundere, wie es Joanna Ho gelingt, diese hochkomplexe Geschichte zu arrangieren und zuzuspitzen. Sie schildert sehr glaubwürdig, wie Mays behütendes Umfeld, aber auch ihre bisherige Schüchternheit sie daran gehindert haben, den Rassismus um sie herum wahrzunehmen. Das ist nicht nur spannend zu lesen, sondern ermöglicht uns Lesenden auch, Stück für Stück zu begreifen, wie tief struktureller Rassismus in unserer Gesellschaft verankert und wie schwer er zu durchschauen ist.
Rassismus gegenüber Asiat:innen
Neu war für mich vor allem die Entstehung des Mythos von der „vorbildlichen asiatischen Minderheit”. Das Narrativ der fleißigen und hart arbeitenden Asiat:innen entstand, um einerseits andere Minderheiten in ein negatives Licht zu rücken und andererseits asiatische Amerikaner:innen in der sozialen Hierarchie aufzuwerten. Mit einem solchen Narrativ standen Asiat:innen gegenüber anderen diskriminierten Gruppen vermeintlich besser da. Der Preis für dieses Versprechen war allerdings hoch: Ungerechtigkeiten, denen die asiatische Community ausgesetzt war, konnten nun nicht mehr angeprangert werden.
Wie tief dieses Verhalten in den Köpfen verankert ist, zeigt Joanna Ho am Beispiel von Mays Eltern, die May zu ihrer eigenen Sicherheit und der Sicherheit ihrer Familie drängen, nicht weiter gegen Nate McIntyre vorzugehen. Ihre Familie glaubt, dass sich die Wogen bald glätten werden. Und obwohl ihre Freund:innen May ermutigen, sich gegen die rassistischen Behauptungen McIntyres zu wehren, zögert sie.
Schweigen
Dieses „Schweigen”, das einerseits Einzelne und Gruppen verbindet, andererseits aber auch Einzelne an bestimmte Normen bindet, dient Joanna Ho als strukturierendes Element ihres Romans. Der englische Originaltitel „The silence that binds us” spiegelt dieses Anliegen viel deutlicher wider als die deutsche Übersetzung „Und zwischen uns ein Ozean aus Schweigen”, die nur das Trennende betont.
Anfangs ist vor allem Mays Beziehung zu ihrer Mutter von gegenseitigem Schweigen geprägt. Wenn es um Mays schulische Leistungen, ihren Kleidungsstil oder ihr unpassendes Verhalten geht, nimmt May das Schweigen ihrer Mutter mal als Warnung, mal als Drohung wahr. May reagiert darauf ihrerseits mit Schweigen. Ihrer Erfahrung nach ist es sicherer, den Mund zu halten und sich in ihre „Schweigehöhle” zu flüchten.
Auch nach Dannys Tod zieht sich jedes Familienmitglied in sich selbst zurück. Schweigen kennzeichnet damit von Anfang an die Art und Weise, wie die Chens ihre Trauer bewältigen. Es ist nicht nur etwas, das sie verbindet, sondern auch etwas, das zwischen ihnen steht.
Das Schweigen, das Nicht-Reden verbindet aber auch die Schwarze mit der asiatischen Community und anderen von Rassismus betroffenen Gruppen. Am Beispiel von Tiya und May zeigt Joanna Ho, dass nicht einmal beste Freund:innen über rassistische Verletzungen miteinander reden. Erst jetzt, nach den ungeheuerlichen Anschuldigungen von Nate McIntyre beginnen sie, sich gemeinsam zur Wehr zu setzen.
Mays Liebe zum Schreiben hilft ihr, den unverhohlenen Rassismus anzuprangern. Mithilfe ihrer Poesie bringt May ihre Trauer über den Verlust von Danny, die Traurigkeit, die ihr Zuhause seit seinem Tod durchdringt, und die Wut auf Nate McIntyre zum Ausdruck. Niemals wird sie zulassen, dass ein rassistischer Weißer Dannys Leben auf ein hässliches Stereotyp reduziert!
Suizid und Trauer
Joanna Ho schildert Mays Emotionen mit großer Empathie. Mays Trauer spüren wir Lesenden genauso wie ihre Verletzlichkeit, auch wenn sie nicht direkt ausgesprochen werden. Wie soll sie jemals in einer Welt ohne Danny weiterleben?
Lange gibt sie sich selbst die Schuld, weil sie glaubt, nicht genügend für ihn dagewesen zu sein. Sie fragt sich, warum sie die Anzeichen nicht wahrgenommen hat und ob er, wenn sie in der Nacht seines Todes bei ihm gewesen wäre, wohl noch leben würde. Erst nach und nach begreift sie, dass Danny unter schweren Depressionen litt und diese so geschickt vor allen verheimlichte, dass keine:r diese Krankheit bemerkte – weder seine Familie noch seine Freund:innen noch die Lehrenden.
Joanna Ho zeigt, was Suizid mit den Hinterbliebenen macht. Diese emotionale Achterbahnfahrt zwischen Trauer, Schuld- und Selbstvorwürfen ist ihr gut gelungen, aber für die Lesenden eine Herausforderung. Mir standen immer wieder die Tränen in den Augen.
Eine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem „Warum” findet – wie womöglich die meisten Hinterbliebenen – auch May nicht. Letztlich bleiben ihr nur die Erinnerungen an ihren geliebten Bruder, die ihr helfen, zu heilen. Aber das ist ein langer Weg.
Trotz aller Trauer ist May eine sympathische, lebensbejahende junge Frau, die im Verlauf des Buchs nicht nur Wut, Angst und Schuld erlebt, sondern nach und nach auch wieder Hoffnung schöpft und sich gestattet, Freude und Zuneigung zu empfinden. Mich hat das Buch sehr gefesselt und ich kann es euch allen nur wärmstens empfehlen!
Für wen empfehle ich dieses Buch?
Dieser Roman ist ein mitreißender Young-Adult-Titel für alle ab 14 Jahren. Auch für Ältere ist er sehr gut geeignet. Die Themen Suizid, Trauer und Rassismus sind geschickt miteinander verwoben, fordern beim Lesen aber emotional heraus. Es ist klug arrangiert und spannend zu lesen, wie May nach und nach ihre Lebensfreude wiederfindet und sich für ihren verstorbenen Bruder, ihre Freund:innen und ihre Familie stark macht.
(Heinke Ubben, 19.7.2024)
Rezensiert wurde:
Und zwischen uns ein Ozean aus Schweigen
Joanna Ho
Übersetzung: Claudia Max
cbj: München 2024
ISBN: 978-3-570-166669–7
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