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Cover von "Und wenn ich dann ankomme ..." von Alexandra Holmes und Judith Vrba

Ein Buch, zwei Geschichten

Mir gefallen Bilderbücher, die ich „auf den Kopf stellen” kann: Deshalb hat mich das Wendebilderbuch „Und wenn ich dann ankomme …” von Alexandra Holmes (Autorin) und Judith Vrba (Illustratorin) sofort begeistert. Darin erzählen die beiden Wienerinnen zwei Geschichten, die Abschied und Ankommen aus vollkommen unterschiedlichen Perspektiven darstellen. Auf der einen Seite geht es um eine Reise, auf der anderen um eine Auswanderung.

Wer nun denkt: Huch, wie passt denn das zusammen? Noch größer kann der Kontrast zwischen einer aufregenden Urlaubsreise und dem vom Abschiedsschmerz begleiteten Aufbruch ins Unbekannte wohl kaum sein!, der sollte sich das Buch unbedingt anschauen. Das Konzept ist bis ins letzte Detail durchdacht, überaus stimmig und atmosphärisch dicht. Verbunden werden beide Aufbrüche durch die Frage: Was nehme ich mit, und was bleibt hier? Dabei bewegen sich Alexandra Holmes und Judith Vrba immer auf Augenhöhe von Kindern.

Das Buch lässt sich sowohl von vorn nach hinten als auch andersherum lesen und betrachten, denn es hat nicht nur zwei Cover und clever gestaltete Vor- bzw. Nachsätze. Stellen die Lesenden das Buch auf den Kopf bzw. drehen es einfach um, ergeben sich wie in einem Vexierbild neue Bedeutungen. Plötzlich erzählt der Text die gegenläufige Geschichte. Plötzlich eröffnen die Abbildungen andere Sichtweisen. Beeindruckend, wie schnell sich die Perspektive ändern kann! Ein solcher Kontrast erzeugt eine Spannung, die nicht nur Kinder zum Nachdenken anregt.

Inhaltsverzeichnis

Ein bisschen mehr zum Text …

In beiden Geschichten sind ähnliche Dinge von Bedeutung: z.B. die Reisekleidung, die Sprache im fremden Land, die Tauben daheim oder das Eis, das allen schmeckt. Dennoch stehen diese Dinge in ganz verschiedenen Kontexten. Da schenkt Opa dem emigrierenden Kind „ein Fotoalbum, damit ich auch später noch weiß, wer ich war” (Zitat), während Oma dem Kind auf der Urlaubsreise ihre Kamera leiht, damit später ein Album voller Erinnerungen daraus werden kann. Da zieht das emigrierende Kind „Reisekleidung an, passend zum Wetter, das dort ist. Wir sehen dann aus wie alle anderen. Im Spiegel erkenn ich mich selber nicht” (Zitat), während das Kind im Urlaub „einen Hut und ein T-Shirt als Souvenir (erhält). Zurück daheim ziehe ich sie an, zeig sie her und bin ganz stolz darauf”. (Zitat)

Diese poetischen Bilder stehen für die Angst vor dem Identitätsverlust durch die Auswanderung auf der einen und für die Freude an der Erweiterung der eigenen Identität durch die Urlaubsreise auf der anderen Seite. Erstaunlich ist, dass das Wort Flucht nicht einmal erwähnt wird. Beides Mal geht es in ein anderes Land, aber nur ein Kind kehrt zurück in die Heimat. Das andere fragt sich, was denn wohl das Wichtigste wäre, das in seinen Rucksack passt: „Die Steine vom Weg, das Wasser vom Brunnen? Mein bester Freund oder einfach nur ich?” (Zitat)

Doch bei aller Neugier, Aufregung und Wehmut, die mit den beiden Abreisen verbunden sind, vergisst Alexandra Holmes das Wichtigste nicht: Geborgenheit. Es ist versöhnlich, wenn sie beschreibt, wie Papa und Mama die Kinder in ihre Mitte nehmen und ihre Hände greifen. Wer sonst könnte – auch den lesenden – Kindern mehr Sicherheit geben?

Ein bisschen mehr zur Illustration …

Die zweidimensionalen Illustrationen sind eine Kombination aus Monotypien, Buntstiftzeichnungen und Gouachemalereien, die am Computer zusammengefügt und bearbeitet wurden. In ihrer Buntheit und Vielfältigkeit erinnern sie an ein Wimmelbuch. Auf allen Seiten wimmelt es von Gegenständen aus dem Alltag von Kindern wie z.B. Socken, Weckern oder Fotos oder von Gegenständen aus unserer Umgebung wie z.B. Häusern, Bergen oder gar Satelliten.

Figuren tauchen nur in Form abstrakter Scherenschnitte auf, die – wie alle anderen Elemente – das Verbindende und Trennende betonen. Die Doppelseite mit dem Figurenreigen beeindruckt mich ganz besonders. Auf der einen Seite sehen wir eine bunte Figur inmitten vieler dunkler, während auf der gespiegelten Seite eine dunkle Figur inmitten vieler bunter steht. Hier greift Judith Vrba die im Text angesprochene Identitätsfrage auf und veranschaulicht sie illustratorisch in auch für Kinder verständlicher Weise.

Wie der Text funktionieren auch die Illustrationen sowohl von der einen als auch von der anderen Seite. Judith Vrba hat diese knifflige Aufgabe mit viel Kreativität und Kunstfertigkeit gelöst. Ordnung und Chaos, Sicherheit und Ungewissheit, Buntes und Dunkles liegen dicht beieinander. Vrbas Bildsprache ist beeindruckend, denn auch nach mehrmaligen Lesen lassen sich immer wieder neue Details, Verweise und Bedeutungen finden.

Für wen empfehle ich dieses Buch?

Der Tyrolia-Verlag empfiehlt das Buch allen Kindern ab 5 Jahren, aber ich halte es durchaus auch für jüngere Kinder geeignet – je nach Entwicklungsstand und Leseanlass. „Und wenn ich dann ankomme …” ist ein vielschichtiges und kunstvolles Wendebilderbuch, das seine kindliche Zielgruppe nie aus dem Blick verliert. Wie in einem Wimmelbuch lassen sich auf allen Seiten viele Dinge entdecken. Je öfter Kindern der Text vorgelesen wird, je öfter sie die Bilder betrachten, desto mehr Fragen und Redeanlässe werden sich ergeben. Deshalb ist „Und wenn ich dann ankomme …” das perfekte Bilderbuch für ein gemeinsames Leseerlebnis!

(Heinke Ubben, 2.10.2024)

Rezensiert wurde:
Und wenn ich dann ankomme …
Alexandra Holmes
Illustration: Judith Vrba
Tyrolia-Verlag: Innsbruck-Wien 2024
ISBN: 978-3-7022-4227-5

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