[Rezension]
„Trip mit Tropf” von Josephine Mark ist ein rasanter Roadtrip und eine wunderbare Freundschaftsgeschichte voller Humor und Wärme – und außerdem ein gewitztes Spiel mit unterschiedlichen Topoi aus Literatur-, Kunst- und Kulturgeschichte.
In ihrer Graphic Novel erzählt Josephine Mark von der Flucht von Kaninchen und Wolf vor dem bösen Jäger. Das ist so klug inszeniert, dass ich auch beim x-ten Lesen über die überraschenden Einfälle lachen muss. Bildsprache und Handlung sprühen vor Lebensfreude; Situationskomik führt zu pfiffigen Szenen und Wendungen.
„Trip mit Tropf” ist eine Geschichte für Kleine und Große. Ich kann sie euch allen nur empfehlen, denn sie ist ein grandios gezeichneter Comic, eine Roadnovel und eine Tierparabel gleichermaßen und lässt sich auf unterschiedlichen Ebenen lesen und verstehen. Je nach Erfahrungshintergrund kannst du darin eine Abenteuer-, Freundschafts-, Tier- und/oder Krankheitsgeschichte sehen, aber auch viele komödiantische Elemente entdecken. Deshalb werden alle Altersgruppen ihren Spaß an dieser Geschichte haben.
Dieses Buch ist mein Highlight des letzten Jahres – und vermutlich nicht nur meins, denn „Trip mit Tropf” ist mit sehr vielen Preisen und Auszeichnungen bedacht worden. Die Liste ist quasi so lang wie der Mediplan von Kaninchen, wie sein Medikamentenplan im Buch liebevoll abgekürzt wird. Du findest die Aufzählung aller Preise und Nominierungen weiter unten.
Inhaltsverzeichnis
- Darum geht es
- Das Besondere an dieser Graphic Novel
- Auszeichnungen und Preise
- Für wen empfehle ich dieses Buch?
Darum geht es
Kaninchen ist sehr krank und erhält im Waldkrankenhaus Infusionen. Verängstigt hockt es mit hängenden Ohren da, während Schwester Erdmute, ein extrem kurzsichtiger Maulwurf mit riesiger Brille, einen endlos langen Medikamentenplan ausrollt.
„Ach, ich Dummerchen”, ruft Schwester Erdmute und schüttelt den Kopf. Da hat sie doch glatt den Zettel mit den Nebenwirkungen mit dem Mediplan vertauscht!
Beruhigend ist das nicht.
Als dann noch Wolf, der in der Nachbarkabine wegen einer Schusswunde behandelt wird, auf der Suche nach einem guten Happen auf Kaninchen zustürzt, scheint es endgültig um das arme Kaninchen geschehen zu sein.
Aber Wolf schreckt zurück. Kaninchen ist ja so was von ungenießbar! Es stinkt nach Gift. Erschrocken mustert Wolf den Mediplan.
Da ertönt ein Schuss. Der Jäger!
In Panik stürzen alle Besucher:innen des Krankenhauses davon.
Ein zweiter Schuss fällt. Der Jäger zielt direkt auf Wolf. Glück gehabt! Mit einem „Zing” prallt die Kugel vom Infusionsständer des Kaninchens ab. Wolf ist gerettet, hat nun aber Kaninchen am Hals. Es gilt nämlich der Wolfskodex: Rettest du mein Leben, dann muss ich dir deins retten. Es gibt nicht viele Regeln für Wölfe, aber diese eine ist heilig!
So beginnt ein rasanter und witziger Roadtrip, immer auf der Flucht vor dem Jäger. Fünf Monate dauert dieser Trip. So lange braucht die Behandlung von Kaninchen, die sein Leben retten soll und Wolf an Kaninchen bindet.
Bald schon geht der Herbst in den Winter über, wobei Kaninchen zuerst sein Fell auf dem Kopf verliert, dann den Rest – und entsetzlich friert. Es ist rührend, wie Wolf ihm eine Mütze schenkt oder ihm später ein Kleid näht. Dieser einsame Wolf ist nämlich gar nicht so ruppig, wie er nach außen zu sein vorgibt. Er hat sein Herz am rechten Fleck und weiß auch dann eine Lösung, wenn Kaninchen nicht mehr weiterkann. Dabei hat auch Kaninchen pfiffige Ideen, etwa als der Benzinschlauch kaputtgeht. Außerdem muss es Wolf ein zweites Mal das Leben retten …
Die Lebensfreude verlieren die beiden trotz der hartnäckigen Verfolgung durch den Jäger und Kaninchens Krankheit nicht. Immer wieder grölen sie Lieder wie „Guten Morgen, guten Morgen, guten Morgen Sonnenschein …” oder Steppenwolfs „Born to be wild”. Nicht nur einmal müssen sie ihr Fahrzeug wechseln. Sind sie anfangs noch mit dem Auto unterwegs, das sie dem Jäger geklaut haben, geraten sie schon bald in Konflikt mit einer Rockerbande, schmuggeln sich in ein heruntergekommenes Motel und landen schließlich … nein, das wird nicht gespoilert!
Am Ende, so viel darf verraten werden, wird es Frühling.
Das Besondere an dieser Graphic Novel
Leichtigkeit und Einfachheit
Es ist beeindruckend, mit welcher Leichtigkeit in dieser Graphic Novel Kaninchens Krankheit, seine Freundschaft zu Wolf und die Flucht vor dem Jäger in einen Zusammenhang gebracht und inszeniert werden. Warme Farben und einfache, beinahe stilisierte Zeichnungen, die flächig gefüllt sind, ziehen uns sofort in den Bann der Geschichte. Die Figuren sind mit leichtem Strich gezeichnet. Vor allem Kaninchen erinnert mich oft an einen kleinen Plüschhasen, den ich einfach nur knuddeln möchte.
Diese Leichtigkeit erzielt Josephine Mark auch durch die klare Gliederung ihrer Panels, die nicht ein einziges Mal aus den Fugen geraten. Gleichbleibende Zwischenräume sorgen für einen guten Lesefluss. Nur wenn plötzlich ganzseitige Landschaftsaufnahmen oder eine ganzseitige schwarze Finsternis aufploppen, lösen sich die Ränder auf. Dann werden wir im Hier und Jetzt verankert; unsere Aufmerksamkeit richtet sich ganz auf die Atmosphäre und die dadurch ausgelösten Gefühle von Schönheit, Verlorenheit, Schmerz oder Hoffnung.
Josephine Mark hat ein ausgezeichnetes Gefühl für die Dynamiken, die ihre Handlung vorantreiben. In den Dialogen fällt kein Wort zu viel. Verschiedene Panel-Größen werden passend angeordnet. Immer wieder wechseln temporeiche Szenen, die mit Speedlines, Lautmalereien oder übergreifenden Textelementen gestaltet werden, mit Bildern voller Ruhe, die gar keine oder nur rechteckige Sprechblasen mit wenig Text haben. Diese Wechsel sind so gut arrangiert, dass es ein großer Spaß ist, durch das Buch zu blättern.
Auch auf der inhaltlichen Seite schafft Josephine Mark von Anfang an Sympathien für ihre Figuren, die fernab ihres Rudels bzw. ihrer Kolonie nur einander haben und vor riesige Herausforderungen gestellt werden. Wenn der griesgrämige Wolf im Waldkrankenhaus seine Wunde selbst näht – harte Kerle kennen keine Schmerzen! – oder Kaninchen wegen des langen Mediplans erschrickt, sind wir sofort auf ihrer Seite, denn natürlich erkennen wir die Anspielungen auf die üblichen Genres und ihrer Held:innen.
Gewitzter Umgang mit Traditionen und Topoi
Gemäß dem Topos des Roadtrips, der nicht erst seit Tamara Bachs „Busfahrt mit Kuhn” und dem Jahre später erschienenen „Tschick” von Wolfgang Herrndorf ein gängiges Genre in der Kinder- und Jugendliteratur ist, prägen Weite, Wald und Berge die Landschaften in dieser Graphic Novel. Ein Auto muss natürlich auch her, aber das Hauptthema dieses Genres ist die Freiheit.
Diese Freiheit wird sowohl von der Erkrankung Kaninchens als auch vom Jäger bedroht, aber Kaninchen und Wolf lassen sich nicht abschrecken und feiern ihr Leben nicht nur mit popkulturellen Anklängen wie „Born to be wild”, dem Biker Song schlechthin aus dem Filmklassiker „Easy Rider”.
Kaninchen ist also kein Opfer(lamm). Josephine Mark umgeht geschickt das klassische Figuren-Stereotyp von Wolf und Schaf bzw. Lamm, das auf die Äsopsche Fabel und darauf basierende Adaptionen zurückgeht. Natürlich hat Kaninchen Angst, schließlich kann es an dieser Krankheit sterben! Aber es steckt auch voller List und hat pfiffige Ideen, wenn die beiden in der Klemme stecken und Wolf keine Lösung weiß. Neben Schnelligkeit und Friedfertigkeit sind es gerade diese Ängstlichkeit und Listigkeit, die dem Hasen bzw. Kaninchen traditionell ikonografisch zugeschrieben werden.
Während Wolf und Kaninchen normalerweise natürliche Fressfeinde sind, macht Josephine Mark aus ihnen Verbündete, die sich in größter Not zusammentun und Freunde werden. Sowieso gehen die Tiere in „Trip mit Tropf” recht wohlwollend miteinander um und helfen einander (meistens). Wolf und Kaninchen sind in bester Slapstick-Tradition ein Duo aus Gegensätzen: groß und klein, stark und schwach, unerschrocken und ängstlich, gesund und krank, wild und brav.
So fragt zum Beispiel Wolf in seiner üblich derben Art:
„Was lernt ihr Pfeifen eigentlich in eurer Nagerschule?!”
S. 33
Kaninchen antwortet singend:
„Wenn Mutti früh zur Arbeit geht, dann bleibe ich zu Hause. Ich binde meine Schürze um und feg die Stube aus…”
S. 34
Diese Unbekümmertheit, mit der Kaninchen sein Lied vorträgt, und die Fassungslosigkeit des Wolfes sind zum Schreien komisch. Allerdings kennt auch Kaninchen die Wolfslieder und grölt sie schon bald mit.
Dieses Duo ist Josephine Mark wahnsinnig gut gelungen. Während am Anfang noch die Bösartigkeit durchschimmert, die dem Wolf traditionell vor allem im Märchen zugeschrieben wird, steht bald nur noch die Unterstützung Kaninchens im Vordergrund. Wir erinnern uns: Wolfskodex!
Dass die Graphic Novel an keiner Stelle in Klischees abgleitet, unterstreicht die Feinfühligkeit und das künstlerische Können Josephine Marks. Wolf ist nämlich keineswegs durchgängig der große Actionheld. Wenn er auf dem Bett sitzt und mit Nadel und Faden ein Kleid für Kaninchen näht, während Kaninchen eine Schmonzette im Fernsehen guckt, dann versinnbildlicht diese Szene seine beinahe mütterliche Unterstützung, wie sie auch Mowgli in Kiplings Dschungelbüchern durch die Wölfe oder Harry Potter durch Remus Lupin erfährt.
Es verwundert nicht, dass Josephine Mark auch die Genreregeln der Sick-Lit genauso beherrscht wie ihre großen Vorgänger. Für die Kinder- und Jugendliteratur möchte ich hier als Beispiele nur John Greens „Das Schicksal ist ein mieser Verräter”, Raquel J. Palacios „Wunder” oder Lauren Olivers „Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie” nennen; es gibt Dutzende andere. Ihnen allen ist mit „Trip mit Tropf” gemeinsam, dass dialogische Szenen und ein im wahrsten Sinn abgefahrener Plot nicht auf auf Mitleid zielen, sondern auf Witz und Ironie.
Obwohl der Name der Erkrankung, an der Kaninchen leidet, nie ausgesprochen wird, ist sofort klar, dass Kaninchen eine Chemotherapie wegen einer Krebserkrankung machen muss. Die aufgezählten Medikamente entsprechen haargenau denen, die auch bei einer Krebstherapie verabreicht werden, und der Fellausfall, die Müdigkeit, der üble Körpergeruch und die Schwächeanfälle entsprechen ganz den üblichen Nebenwirkungen dieser Therapie.
Josephine Mark erzählt in „Trip mit Tropf” von Dingen, über die in unserer Gesellschaft immer noch zu wenig gesprochen wird – vor allem mit Kindern. Ja, es ist schlimm, Krebs zu haben und von seiner Kolonie ausgeschlossen zu sein. Umso wichtiger aber ist es, einen guten und starken Freund zu haben, der dir hilft, dich aus dem Wirrwarr der Infusionsschläuche zu befreien, und der dir neuen Lebensmut gibt. Das verstehen selbst die Kleinsten, denn sie sprechen und empfinden ohnehin viel stärker als wir Erwachsenen in einer Kombination aus Bildern und Wörtern.
Auszeichnungen und Preise
- Finalistin Comicbuchpreis der Berthold Leibinger Stiftung 2022
- Die besten 7, September 2022, Deutschlandfunk
- Max-und-Moritz-Preis 2022 in der Kategorie „Bester Comic für Kinder”
- Kröte des Monats, Stube Wien, Januar 2023
- Leipziger Lesekompass 2023
- Uwe Lüders Preis für Illustrationskunst 2023
- Auswahlliste Deutscher Kinder- und Jugendliteraturpreis 2023 in der Sparte Jugendbuch
- Kranichsteiner Literatur-Stipendium 2023
- Nominierung Paul-Maar-Preis 2023, Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur
- GINCO Award 2023 für „Bester narrativer Lang-Comic”
- ITB BuchAward 2024, Kategorie „Alice” Kinder- und Jugendbuchpreis, Graphic Novel
Für wen empfehle ich dieses Buch?
„Trip mit Tropf” ist ein Buch für alle! Der Verlag empfiehlt es ab 12 Jahren. Ich würde es sogar mit jüngeren Kindern lesen. Für alle Älteren – insbesondere auch Erwachsenen – ist diese Graphic Novel ein Genuss und ein großer Spaß.
(Heinke Ubben, 27.4.2024)
Rezensiert wurde:
Trip mit Tropf
Josephine Mark
Kibitz Verlag: Hamburg 2023, 3. Aufl.
ISBN: 978-3-948690–14-4
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