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Cover des Romans "Best bro ever!" von Jenny Jägerfeld

Ich bin ein Junge! (Mit einer Vulva)

„Best Bro Ever!” von Jenny Jägerfeld (Übersetzung: Susanne Dahmann) ist eines der besten Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Das Buch ist 2023 bei Urachhaus erschienen und steht auf der Auswahlliste zum Deutschen Kinder- und Jugendliteraturpreis 2024.

Es ist eine großartige Geschichte, die von einer Freundschaft zwischen einem trans und einem cis Jungen erzählt. Sie lebt von starken und skurrilen Figuren, die Jenny Jägerfeld mit sehr viel Einfühlungsvermögen gestaltet hat, und ist von einem einzigartigen Tonfall geprägt, den Susanne Dahmann in ganz wunderbarer Weise ins Deutsche übertragen hat. Darüber hinaus steckt die Handlung voller Witz und Humor.

Das Außergewöhnlichste aber ist die Perspektive, für die sich die Autorin entschieden hat. Der 11-jährige Måns, der trans Junge, erzählt seine Geschichte selbst. Transgendergeschichten aus der Sicht von Betroffenen gibt es in der Kinder- und Jugendliteratur eher selten. Meistens wird aus Perspektive von Geschwistern wie z.B. in „Birdie und ich” (Jessica M. M. Nuanez) oder aus der von Freund:innen wie in „Fred und ich” (Lena Hach) erzählt.

Auf den ersten Seiten lernen wir den 11-jährigen Måns als einen typischen Teenager kennen, der für sein Leben gern skatet. Er freut sich, dass er die Sommerferien mit seiner Mutter in Malmö verbringen kann. In der Schule gab es Probleme, aber zu Beginn der Geschichte verrät Måns uns Lesenden nicht, welche.

Es dauert, bis Jenny Jägerfeld ihr Thema benennt. Erst als Måns und Mikkel sich kennenlernen, Blutsbrüderschaft schließen und einander schwören, sich immer die Wahrheit zu sagen, gerät Måns in Konflikte. Måns ist ein Junge. Das weiß er schon ewig. Ist es da wichtig zu erzählen, dass er eine Vulva hat?

Inhaltsverzeichnis

Worum geht es?

Måns lebt eigentlich in Stockholm. Doch seine Mutter, eine Synchronsprecherin, muss wegen eines Jobs für einige Wochen nach Malmö. Måns freut sich, seine Mutter begleiten zu dürfen.
Als er aber erfährt, dass Nora, die Tochter eines Freundes seiner Mutter, tagsüber auf ihn aufpassen soll, ist er furchtbar genervt. Mit 11 Jahren ist er dafür doch viel zu alt!

Zum Glück trifft er Mikkel – wobei ihre erste Begegnung alles andere als glücklich verläuft. Måns‘ Skateboard trifft Mikkel am Kopf und dieser schimpft so sehr, dass Måns erschrocken zurückweicht. Mikkel wirkt mit all seinen Tätowierungen – Drachen, Tigern, Totenköpfen – alles andere als vertrauenserweckend. Trotzdem ruft Måns ihm hinterher: „Ich heiße Måns.”

Kurz bevor er zwischen den Bäumen verschwand, drehte er sich um und knurrte ein leises: „Mikkel.”
Oder das ist jedenfalls, was ich glaube, dass (sic!) er sagte. Genauso gut konnte es: Me kill. Also: „Ich töte!” auf Englisch geheißen haben. So als wollte er mich töten! Mein Herz schlug so fest hinter meinen Rippen. Möglicherweise war er echt verrückt.

S. 17 f.

Auch beim nächsten Wiedersehen im Park erschrickt Måns vor Mikkels Aussehen. Als Mikkel seine Eckzähne entblößt, denkt er: Sie sehen aus wie bei einem Wolf!

Aber dann fordert Mikkel Måns zu einem Battle im Skateboarden heraus: Malmö contra Stockholm. Natürlich nimmt Måns an, denn wenn er eines kann, dann ist das skaten!
Vermutlich wäre auch alles gutgegangen, hätte Mikkel Måns nicht zu einem Boardslide am Kinderbecken verleitet, bei dem Måns ganz böse stürzt und sich eine blutende Platzwunde zuzieht.

Trotz des Sturzes ist Mikkel schwer beeindruckt, nennt Måns einen „richtigen Mann” und dann – ja, dann schließen die beiden Blutsbrüderschaft und beschließen, immer füreinander da zu sein und sich in allen Dingen die Wahrheit zu sagen.

So kommt Måns zu seinem titelgebenden „Best bro ever”. Ach, er könnte heulen vor Glück! Noch nie hat ihn jemand als seinen Bro bezeichnet.

Aber es gibt da noch eine andere Sache. Ich wollte es eigentlich nicht erzählen. Ich dachte, ich würde es weglassen. Das geht ja andere nichts an. Aber jetzt möchte ich es doch sagen. Weil es Teil meiner Geschichte ist.
Ich bin ein Junge. Ja, und das findet ihr vielleicht nicht seltsam. Aber hört zu. Ich bin ein Junge, bloß bin ich mit einer Vulva geboren.

S. 42

Und weil er mit einer Vulva geboren worden ist, will er seinen Eltern auch keinen Vorwurf machen, dass sie ihm einen Mädchennamen gegeben haben. Das Problem ist nur: Dieser Name klebt an ihm, wie Kaugummi unter dem Schuh. Aber er will ihn nie wieder hören, denn dieser Name, das ist nicht er.

Er erzählt, wie schwer es war, alle anderen davon zu überzeugen, dass er ein Junge ist. Bis vor einem halben Jahr hieß er nämlich noch Michelle – ein Name, der zusammen mit einem sehr nach Mädchen aussehenden Passfoto, das Måns abgrundtief hasst, in seinem Pass verewigt ist.
Seine Oma sagt, es wäre nur eine Phase. Aber immerhin hat er seine Mutter überzeugt, die voll hinter ihm steht. Auch in der Schule hat er sich geoutet, doch einige seiner Mitschüler:innen begreifen es nicht und ärgern ihn ständig.

Probleme gibt es leider auch mit seinem Vater. Der kann ihn im Moment nicht einmal mehr ansehen; er antwortet ihm auch nicht. Und deshalb ist Måns auch ganz froh, eine Weile von seinem Vater getrennt zu sein.

Umso glücklicher ist Måns über den unverkrampften Umgang zwischen Mikkel und ihm. Zum ersten Mal fühlt er sich von einem anderen Menschen akzeptiert und muss sich nicht rechtfertigen – bis Mikkel seinen Pass mit seinem Deadname findet.

Mikkel fühlt sich verraten, schließlich hatten sich die beiden Jungen geschworen, offen miteinander zu sein und einander alle Geheimnisse anzuvertrauen. Wutentbrannt rennt Mikkel davon.

Aber auch Måns ist tief getroffen. Ist das jetzt das Ende ihrer Freundschaft? Diese Frage bleibt spannend bis zum Schluss.

Das Besondere an diesem Roman

Mich beeindruckt, wie Jenny Jägerfeld das Thema Transgender angeht und mit welchem Einfallsreichtum sie ihre Figuren gestaltet.

Das Thema Transgender

Måns selbst betrachtet sein Transsein grundsätzlich nicht als Problem. Er weiß es schon, seitdem er vier Jahre alt ist. Für ihn steht fest, dass er ein Junge mit einer Vulva ist, und er wünscht sich nichts mehr, als dass seine Umgebung ihn unterstützt. Deshalb ist es auch sehr konsequent, dass Jenny Jägerfeld ihn anfangs als einen Jungen vorstellt, ohne diese Tatsache zu benennen.

Aber der Elefant steht natürlich immer im Raum, auch wenn Måns nicht möchte, dass es irgendwelche Bedeutung hat, dass er eine Vulva hat und bis vor einem halben Jahr noch als Mädchen gelebt hat. Diesen Zwiespalt verdeutlicht Jenny Jägerfeld sensibel, klug und facettenreich.

Wir Lesenden verstehen recht schnell, wie schwierig es ist, mit dieser Disposition zu leben und damit umzugehen. Måns spricht über die damit verbundenen Probleme sehr reflektiert. Nicht nur einmal wird deutlich, wie absurd sein Alltag, geschlechterspezifische Normen und eine geschlechtsspezifische Erziehung sind.

Er schildert realistisch, wie Menschen in seinem Umfeld mit Unverständnis und Ablehnung auf ihn reagieren. Dass sein Vater ihn als Sohn nicht unterstützt, trifft ihn am härtesten.

Trotz allem zeigt Måns Verständnis für die Probleme seines Vaters (und später auch Mikkels), schließlich hat Måns selbst Jahre gebraucht, bis er soweit war, als trans Junge zu leben. Das war ein langwieriger Prozess.

Dass dieser Prozess nicht abgeschlossen ist, zeigt sich zum Beispiel auch daran, dass es ihm nicht gelingt, Mikkel davon zu erzählen. Eine Gelegenheit nach der anderen verstreicht, denn Måns ist sich zwar sicher: Er ist ein Junge. Aber wie wird Mikkel auf seinen weiblichen Körper reagieren?

So kommt es, dass Mikkel völlig unvorbereitet den Pass mit seinem Deadname und dem Passfoto, das nur weiblich gelesen werden kann, findet.
Mikkel fühlt sich verraten – und Måns fühlt sich außerstande, irgendetwas zu erklären.

Måns ist nicht nur klug, sondern auch lebensbejahend und mutig. Nur deshalb kann er am Ende über seinen Schatten springen, aber das dauert …

Unvergessliche Figuren

Jenny Jägerfeld hat einen Roman mit vielen großartigen Charakteren geschaffen. Alle Figuren haben Ecken und Kanten und dürfen sein, wie sie sind. Måns und Mikkel habe ich bereits vorgestellt, aber es gibt noch einige mehr.

Da ist zum einen Måns‘ Mutter, eine begnadete Stimmen-Imitatorin, die wie eine gestresste Hummel oder ein erkälteter Bär klingen kann. Viele ihrer Verhaltensweisen sind Måns peinlich, z.B. wenn sie vor lauter Freude auf- und abhüpft. Aber auch für einen Film, den sie vor Jahren gedreht hat und in dem sie keine Kleider anhat, weil sie am gesamten Körper schwarz angestrichen ist (nur das Gesicht ist weiß), schämt er sich entsetzlich. Zu allem Unglück ist dieser Film auf YouTube abrufbar und hat über 18.000 Klicks.

Auch seinen Vater, der für das Klima Fahrrad fahren will, findet er peinlich, wenn er diesen „Windeldress” trägt, einen rot leuchtenden Fahrradanzug mit Polsterung am Po. Sein Ziel ist es, bis nach Paris zu fahren, um auf die Klimaveränderung aufmerksam zu machen und die Menschen zum Umdenken zu bewegen.

Einprägend ist auch die Figur der 17-jährigen Nora, der Tochter des Malmöer Freundes. Nora sagt und macht alles viermal. Wenn sie zum Beipiel „Hej” sagen will, dann klingt das im Malmöer Dialekt wie: „Hai, Hai, Hai, Hai!”. Måns möchte sie am liebsten fragen: „Wo denn?”

Und dann ist da noch Mikkels Bruder, der so laut Musik hört, dass die Wände wackeln. Er will Tätowierer werden und malt Måns zur Übung Tätowierungen mit Stiften auf die Haut.

All diese Figuren sind so authentisch gestaltet, dass sie sehr lebendig wirken. Darüber hinaus ist es bewunderswert, wie es der vielfach ausgezeichneten Jenny Jägerfeld gelingt, so individuelle Charaktere zu schaffen.

Für wen empfehle ich dieses Buch?

Alle Menschen ab 10 Jahren, die gerne Freundschaftsgeschichten zwischen zwei Jungen lesen und sich für das Thema Diversität begeistern, werden an diesem Buch ihre Freude haben. Der Text ist leicht lesbar, steckt voller Wortwitz und ist in kurze Kapitel mit humorvollen Überschriften unterteilt. Ich kann diese Geschichte allen, die ein gutes Buch suchen, nur empfehlen!

(Heinke Ubben, 8.10.2024)

Rezensiert wurde:
Best bro ever!
Jenny Jägerfeld
Übersetzung: Susanne Dahmann
Stuttgart: Urachhaus 2023
ISBN: 978-3-8251-6262-7 (epub)

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Kommentare

2 Antworten zu „Ich bin ein Junge! (Mit einer Vulva)“

  1. Wieder eine so fundierte Buchbesprechung – toll👏🏼👏🏼👏🏼. Deine Seite ist einmalig und eine Fundgrube für alle, die außergewöhnlich gute Kinder- und Jugendbücher lieben. Weiter so!!!

    1. Vielen Dank für dieses tolle Lob, lieber Frank!

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