[Rezension]
„Haifischzähne” von Anna Woltz (Übersetzung: Andrea Kluitmann) ist eines der Bücher, die in Erinnerung bleiben. Ich habe das Buch, das 2020 im Carlsen Verlag erschienen ist, bereits kurz nach seinem Erscheinen gelesen, doch die Ideen und Details der Geschichte habe ich noch heute bildlich vor Augen. Das kann ich nicht von vielen Büchern behaupten!
Besonders beeindruckend finde ich, wie es der vielfach preisgekrönten Autorin gelingt, ihre Geschichten konsequent aus der Sicht von Kindern zu entwickeln und zu erzählen. Allein auf die Idee, die diesem Buch zugrunde liegt, kann (außer einer so begnadeten Autorin wie Anna Woltz) eigentlich nur ein Kind kommen. Die 11-jährige Atlanta will mit dem Fahrrad das IJsselmeer umrunden. 360 Kilometer an einem einzigen Tag! Sie ist fest davon überzeugt: Wenn sie das schafft, dann wird „alles” gut. Doch was sich hinter diesem „Alles” verbirgt, erfahren wir erst sehr viel später.
Als erwachsene Lesende wissen wir: Natürlich kann das nicht gutgehen! Und so kommt es. Wir haben gerade einmal wenige Sätze gelesen, da stürzt Atlanta bereits über das Fahrrad von Finley. Aber was anfänglich wie ein großes Ärgernis wirkt, entpuppt sich nach und nach zu einem wahren Glücksfall und zu einer ganz besonderen Freundschaft.
Anna Woltz hat mit Atlanta und Finley zwei lebensecht wirkende und warmherzige Figuren geschaffen, die trotz aller Schwierigkeiten nie ihren Mut verlieren. Die Kapitel sind kurz und mit Kilometerangaben überschrieben, sodass sich die Lesenden immer orientieren können, wo sich die beiden gerade befinden. Der Text, für den Andrea Kluitmann eine ausdrucksstarke deutsche Übersetzung gefunden hat, besticht durch seine gelungenen Dialoge. Darüber hinaus ist er leicht lesbar und immer pointiert. Mit seinen 96 Seiten ist das Buch insgesamt sehr kurz.
Worum geht es?
Atlanta will nicht mehr warten, denn ihre Mutter, ihr Vater und sie selbst warten schon viel zu lange. Wir erfahren, dass sie bis vor sieben Monaten noch eine fröhliche, unbeschwerte Familie waren. Aber was dann geschehen ist und worauf die drei warten, verrät uns Anna Woltz erst später.
Zunächst einmal saust Atlanta mit dem Fahrrad die Straße hinab. Doch bereits bei Kilometer 4,9 – nach dem ersten Absatz – knallt sie mit voller Wucht in einen Jungen, der direkt vor ihr fährt. Sie stürzt und beschimpft den Jungen, aber zum Streiten hat Atlanta keine Zeit. Rasch sammelt sie ihre Siebensachen wieder ein: den dicken Pulli, ihre Regenjacke, zwölf Brote, vier Bananen, die Weihnachtsbeleuchtung (die sie dabeihat, damit sie im Dunkeln gesehen wird und selbst sehen kann), Müsliriegel und das Reparaturset. Und schon geht es weiter!
Atlanta hat alles genau berechnet:
Alle zwei Stunden darf ich zehn Minuten anhalten. Nicht länger. Sonst schaffe ich es nicht.
(S. 10)
Morgen Mittag um zwei Uhr will sie wieder zu Hause sein. Ihren Eltern hat sie erzählt, sie übernachtet bei ihrer Freundin, in der Schule hat sie sich entschuldigt, sogar ihre Zahnspange hat sie eingesteckt – die will sie in der Nacht beim Radfahren tragen.
Das oder besser gesagt der Einzige, mit dem sie nicht gerechnet hat, ist Finley. Zunächst will sie nicht, dass er sie begleitet.
Was ich heute tun muss, das geht nicht zu zweit. Vielleicht kann ich es nicht einmal allein.
(S. 10)
Also schüttelt sie ihn ab. Aber als sie einige Kilometer weiter durch einen menschenleeren Wald radelt, ist sie heilfroh, ihn wiederzusehen.
Wie blöd kann man sein? Ganz allein so eine verrückte Tour zu machen, ohne dass jemand weiß, wo ich bin. Ich hatte mir Radwege voller Touristen vorgestellt. Aber hier ist niemand.
(S. 18)
Niemand bis auf Finley. Wie Atlanta ist er auf der Flucht. Seine Mutter hat ihm im Streit an den Kopf geworfen, es wäre besser, sie hätte mit seinem Vater nie ein Kind bekommen. Deshalb ist er davongestürmt, ohne warme Kleidung und ohne Essen. Nur die titelgebenden Haifischzähne, die Glücksbringer seiner Mutter, die sie morgen für ihre Fahrprüfung braucht, hat er aus Rache eingesteckt.
Wie es zu diesem Streit kam (Finley hat großen Mist gebaut), erfahren wir ebenso wie viele andere Dinge, während Finley und Atlanta weiterstrampeln. Mal mit Rücken-, mal mit Gegenwind. Die Annäherung zwischen den beiden Kindern beschreibt Anna Woltz mit viel Sprachwitz und voller Herzenswärme und Einfühlungsvermögen.
Je mehr Kilometer die beiden zurücklegen, desto erschöpfter werden sie. Wind und Regen, Hunger und Müdigkeit fordern schließlich ihren Tribut. Lange will vor allem Atlanta nichts von einer Pause wissen, doch bei Kilometer 92,4 entdecken Finley und sie eine Vogelschutzhütte, die ihre Zuflucht für die Nacht wird.
Der große Schreck wartet am nächsten Morgen. Als Atlanta aufwacht, ist der Platz neben ihr leer.
Es fühlt sich an, als würde mir jemand in den Bauch boxen. Seit Mama krank ist, habe ich hiervor am meisten Angst. Im Stich gelassen zu werden. Allein zurückzubleiben.
(S. 64)
Jetzt ist es endlich heraus! Atlanta hat Angst davor, dass die Untersuchung morgen im Krankenhaus lauten könnte, der Krebs ihrer Mutter wäre zurück.
Doch auf den Schreck folgt eine wunderschöne Prolepse, eine Vorausdeutung, denn natürlich hat Finley sie nicht verlassen. Er musste nur mal vor die Tür. Kurz darauf komt er wieder herein, eingewickelt in die Lichterkette mit roten, grünen und gelben Lämpchen. Wie ein Weihnachtsbaum sieht er aus!, denkt Atlanta.
Dass dieser Tag (fast) so wunderbar werden wird wie Weihnachten, weiß sie da natürlich noch nicht. Sogar Geschenke gibt es. Aber davon lest ihr am besten selbst!
Für wen empfehle ich dieses Buch?
Dieses 96 Seiten starke Buch ist ein literarisches Kleinod, das zum Selberlesen ebenso geeignet ist wie zum Vorlesen oder als gemeinsame Klassenlektüre. Der Verlag empfiehlt es ab 10 Jahren, aber lesebegeisterte Kinder werden es auch schon früher lesen können.
(Heinke Ubben, 11.10.2024)
Rezensiert wurde:
Haifischzähne
Anna Woltz
Übersetzung: Andrea Kluitmann
Hamburg: Carlsen 2020
ISBN 978-3-551-55515-1
Schreibe einen Kommentar