[Artikel – Zahlensymbolik in Kinder- und Jugendbüchern]
Zahlen begegnen uns überall – als Maßzahlen beim Wiegen und Messen, als Ordnungszahlen beim Zählen und Auflisten, als Symbole im Alltag und in der Literatur. Gezählt haben die Menschen schon immer. Zunächst hinterließen sie Kerben auf Knochen oder Felswänden, später entwickelten sie leistungsfähige Zahlensysteme. Das Besondere daran ist, dass die scheinbar so nüchternen Zahlen von Anfang an mit philosophischen, religiösen, magischen oder esoterischen Bedeutungen aufgeladen wurden – und sich daran bis heute kaum etwas geändert hat.
Am Beispiel von aktuellen Kinder- und Jugendbüchern wie „Schön wie die Acht“ von Nikola Huppertz „Sieben. Die Schöpfung“ von Linda Wolfsgruber, „Eine Million Punkte“ von Sven Völker und Rebecca Yarros Drachensaga „Flammengeküsst“ sowie Klassikern wie „Krabat“ von Otfried Preußler und „Harry Potter“ von J. K. Rowling möchte ich im Folgenden zeigen, inwieweit Zahlen zur literarischen Gestaltung von Kinder- und Jugendromanen beitragen und wie diese Bedeutungszuschreibungen entstanden sind.
Auf geht’s!
Inhaltsverzeichnis
- Zahlen erzählen
- Die unglückselige 13
- Die vollkommene 12
- Die ambivalente 7
- Zahlen als Maß aller Dinge
- Die dualistische 2
- Die vereinigende 3
- Zahl contra Wort
- 2+2=5?
- Die 0 und das NICHTS
- Aus wenig wird viel
- ALLES
- Fazit
- Primärliteratur
- Sekundärliteratur
Zahlen erzählen
Jede:r von uns verknüpft Zahlen mit Erinnerungen und Bedeutungen. Denke nur an dein Geburtsdatum oder den Heiligen Abend, der fest mit dem 24. Dezember verknüpft ist, oder an Redewendungen wie „Das verflixte 7. Jahr“, das bei uns vor allem durch die gleichnamige Komödie mit Marilyn Monroe aus dem Jahr 1955 zum geflügelten Wort wurde. Wer heute das Wort Nine-Eleven hört, wird sofort an die furchtbaren Anschläge von New York erinnert.
An schreckliche Ereignisse erinnert auch das Datum vom 9. November: an den Hitlerputsch 1923 und die Reichspogromnacht 1938. Diese Ereignisse, die demokratiefeindliche, radikale Gruppen in ihrem Sinn als Gedenktage nutzen (könnten), sind der Grund dafür, dass wir den Tag der Deutschen Einheit nicht am 9. November, sondern am 3. Oktober feiern, obwohl am 9. November 1989 die Mauer geöffnet wurde.
Doch lassen wir uns nicht täuschen. Nicht immer sind die Zuschreibungen so eindeutig. Wenn Goethe zum Beispiel in „Faust I“ (2540ff.) die Hexe ihren Zauberspruch aufsagen lässt, mit dem sie angeblich Geld vermehren kann, dann beschwört sie das reinste Zahlenchaos:
„Du musst verstehn!
Goethe, Faust I, 2540ff.
Aus Eins mach Zehn,
Und Zwei lass gehn,
Und Drei mach gleich,
So bist du reich.
Verlier die Vier!
Aus Fünf und Sechs –
So sagt die Hex –
Mach Sieben und Acht,
So ists vollbracht:
Und Neun ist Eins,
Und Zehn ist keins.
Das ist das Hexen-Einmaleins.“
Wer in diesem Zitat nach Bedeutungen sucht, sucht ewig. Hier ist das Numerische ein Beispiel für Numinoses.
Die unglückselige 13
Ganz anders verhält es sich mit der 13. Bereits Kinder kennen ihre negative Zuschreibung. Auch manch ein Hotel verzichtet auf die 13 als Zimmerzahl und manch eine:r scheut sich 13 Personen an einen Tisch zu setzen. In Märchen prophezeit die 13. Fee immer ein Unglück. Und wer hat noch nie einen Freitag, den 13. verflucht?
Dabei ist die Deutung der 13 als Unglückszahl relativ neu. Sie geht auf den Aberglauben des 17. Jahrhunderts zurück (Endres/Schimmel, S. 222). Zu jener Zeit wurde der Verrat des Judas – er war der 13. am Tisch während des Abendmahls – mit der Unglück verheißenden Zahl 13 verknüpft (Rohner, S. 80).
Seitdem darf die 13. Tür im Märchen nicht ungestraft geöffnet werden, erscheinen Hexen in Gruppen von 13 usw. Auch das Sprichwort „Jetzt schlägt’s 13!” zeigt, dass es zu viel ist, wenn die Geschlossenheit der 12 überschritten wird.
Die vollkommene 12
Dass dem nicht immer so war, verdeutlicht die Odyssee. Odysseus entgeht dem Tod, während seine 12 Gefährten aufgefressen werden. Er war der Eine über den 12, der Führer, nicht der Todeskandidat (Endres/Schimmel, S. 223).
Die meisten alten Kulturen waren duodekadisch aufgebaut, d.h. sie basierten auf der 12. Bei vielen Völkern finden wir 12 Tierkreiszeichen, Gruppen von 12 Göttern oder Helden, Zeitspannen von 12 Stunden, Tagen oder Monaten. Die 12 Stämme Israels, das Vorbild für die 12 Apostel, gab es nie, dennoch formte dieser Begriff eine Einheit.
Die 12 galt wegen ihres religiösen Bezugs in vielen Kulturen als heilige Zahl, die die Vollständigkeit und die zyklische Ordnung symbolisiert.
Auch in Otfried Preußlers „Krabat”, angelehnt an traditionelles Sagengut, begegnet uns die 12 als Kennzeichen einer solchen zyklischen Ordnung. 12 Burschen leben auf der Mühle. Stirbt der Altgesell an Neujahr, muss ein neuer Lehrling gesucht werden, um die Vollständigkeit zu gewährleisten.
Wie Odysseus ist der Müller der 13., derjenige, der die Ordnung überschreitet. Doch anders als Odysseus ist der Müller der Todeskandidat. Er verriet seine Seele, als er einen Pakt mit dem Gevatter einging (der im Buch nicht geschildert wird). Krabat dagegen bleibt sich treu und folgt seinem Herzen.
Die Bedeutungszuschreibung zu Zahlen ist also kein Automatismus. Wenn wir über Zahlensymbolik reden, müssen wir auch immer den Entstehungszeitraum der jeweiligen Erzählung betrachten. Als die Odyssee entstand, hatten Zahlen eine andere Bedeutung als heute.
Die ambivalente 7
Für den Tod steht in „Krabat“ auch der 7. Mühlengang, der Tote Gang, der normalerweise stillsteht. Nur in den Neumondnächten, wenn „Der mit der roten Hahnenfeder” kommt, beginnt sein Räderwerk zu mahlen. Statt Korn werden dann Knochen und Zähne gemahlen. Damit verknüpft Preußler die 7 mit dem Tod.
Ganz anders nutzt J. K. Rowling in ihrem „Harry Potter”-Zyklus die 7. Kaum eine Autorin in der Kinder- und Jugendliteratur hat mit dieser Zahl wohl so sehr gespielt wie sie.
7 Initiationsriten hat Harry im „Stein der Weisen” zu überwinden, die auf die weiteren 7 Bände und seine bevorstehenden Prüfungen verweisen. 7 Horkruxe muss er vernichten. 7 Jahre begleiten wir Harry, Ron und Hermine. 7 Stockwerke hat Hogwarts. 7 Galeonen zahlt Harry für seinen ersten Zauberstab. 7 Kinder haben die Weasleys. 7 Geheimgänge finden sich auf der Karte des Herumtreibers. 7-mal gewann Slytherin den Hauspokal. Und sowohl Harry als auch Neville sind am Ende des 7. Monats geboren.
Dieses literarische Spiel mit der 7 gipfelt darin, dass Rowling ein eigenes Unterrichtsfach namens Heptomologie erfindet, wobei fraglich ist, ob es in Hogwarts überhaupt unterricht wird. (HP 5: Der Orden des Phönix, Kap.: Der Käfer in der Klemme.) Es soll auf eine Magierin namens Bridget Wenlock zurückgehen, die als Erste die magische Bedeutung der Zahl 7 erkannt haben soll.
Durch diese Häufung und die hervorstechende Rolle der 7 wirkt sie innerhalb der Heptalogie wie eine magische Zahl. Damit bewegt sich Rowling ganz im Rahmen der phantastischen Tradition ihres Landes, denn in England war die Phantastik im Gegensatz zu Deutschland schon immer
(…) ein reizvolles literarisches Spiel mit dem Möglichen und Unmöglichen.
Kaminski, S. 94
Dessen ungeachtet hat die Symbolkraft der 7 die Menschen schon immer fasziniert. Ihr Ursprung ist in der Gestalt des Mondes zu sehen. 4×7 Tage dauert der Mondumlauf, an jedem 7. Tag ändert er sichtbar seine Gestalt.
Der babylonische Kalender, der zur Zeit Hammurabis im 19. vorchristlichen Jahrhundert eingeführt wurde, beruht auf den Mondphasen, und in ihm sind der siebte, der 14., der 21. und der 28. Tag jeden Monats Unglückstage, an denen man bestimmte Arbeiten meiden musste.
Endres/Schimmel, S. 145f.
In der Frühzeit und Antike waren die Menschen davon überzeugt, dass das Lebensalter in 10 Abschnitte zu je 7 Jahren eingeteilt werden könne, die jeweils wesentliche Veränderungen mit sich brächten (ebd. S. 143f.). Darauf ist auch die oben bereits erwähnte Redewendung „Das verflixte 7. Jahr“ zurückzuführen.
Grundsätzlich muss die 7 als eine ambivalente Zahl gesehen werden, denn sie kann sowohl ein Symbol der Schöpfung als auch der Boshaftigkeit sein. Der 7. Tag ist der Tag der Vollendung der Schöpfung, aus 7 Bitten besteht das Vaterunser, 7 Sakramente kennt die Bibel usw. Dem gegenüber stehen die 7 Todsünden oder die magische Aufladung der 7 in der Alchemie, wo etwa Destillierungen 7-mal vorgenommen werden mussten.
Wie sehr die 7 in unserer Kultur mit der christlichen Schöpfungsgeschichte verbunden ist, hat jüngst Linda Wolfsgruber in ihrem beeindruckenden und künstlerisch herausragenden Bilderbuch „Sieben. Die Schöpfung” illustriert, für das sie den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2024 und den Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2024 erhielt.
Eingebettet in ein Vorsatzpapier, das hohe Eisberge vor einem nächtlichen Himmel zeigt, und ein Nachsatzpapier, auf dem die Eisberge deutlich abgeschmolzen sind, weist sie dem Menschen eine besondere Verantwortung für den „Himmel und die Erde und ihr ganzes Miteinander” (Zitat) zu und weitet so den Blick auf die aktuelle Klimakrise. Die 7 Schöpfungstage verkörpern bei Wolfsgruber also nicht die traditionelle Vollkommenheit, in der der Mensch die Krone der Schöpfung ist, sondern stehen für die Verantwortung und die Herausforderung des Menschen, die Schöpfung in ihrer gesamten Vielfalt zu bewahren.
Auch eine international gefeierte Romantasy-Autorin wie Rebecca Yarros greift auf die Zahlenmystik zurück, wenn sich am Ende von „Iron Flame. Flammengeküsst”, dem gerade erschienenen 2. Band der 3-teiligen Drachensaga, herausstellt – Achtung, Spoiler! -, dass es nicht nur 6, sondern 7 Rassen von Drachen gibt und diese 7. den Schlüssel darstellt, um den Schutz Navarres‘ zu sichern.
Abhängig von der literarischen Tradition, innerhalb derer sich ein:e Autor:in bewegt, muss der Zahlensymbolik in dem jeweiligen Werk eine andere Bedeutung zugemessen werden, wie die eher spielerische Bezugnahme bei Rowling und Yarros sowie der Rückgriff auf die Schöpfung bei Wolfsgruber oder auf die Literarizität bei Preußler zeigen.
Zahlen als Maß aller Dinge
Von Anfang an galten Zahlen als Symbole der Ordnung und des Chaos, der Vollkommenheit und Zerstörung, der Einheit und Vielheit. Die Unvergänglichkeit der Zahlen wurde in allen Kulturen mit dem Göttlichen assoziiert.
Zählen und Messen gehören zu den Wonnen der Götter. Einer der 99 Namen Allahs ist denn auch „der Zähler“. Der Koran sagt, Allah sei ein „schneller Rechner“ und habe seine Diener alle gezählt (…), ganz so wie Jahwe die „Sternlein“ gezählt habe.
Heuser, S. 15f.
Noch weiter ging Pythagoras mit der Theorie, die er im 6. Jahrhundert v. Chr. aufstellte:
Alles ist Zahl.
Pythagoras
Der Grieche war ein zahlengläubiges Genie, das die Ordnung aller Dinge ins Zentrum seines Denkens stellte und die Harmonie des Universums mit Zahlen zu erklären versuchte.
Ihm haben wir es u.a. zu verdanken, dass die geraden Zahlen, die unbegrenzt teilbar sind, der Vielheit, dem Weiblichen, dem Gekrümmten und dem Bösen zugeordnet wurden, die ungeraden Zahlen dagegen der Grenze, dem Männlichen und dem Guten.
Die Vorliebe für ungerade Zahlen führte dazu, dass rituelle Handlungen, Gebete, Beschwörungen in ungeraden Zahlen vorgenommen wurden …: man vollzieht einen Zauber dreimal oder siebenmal und wiederholt ein Gebet oder das Amen dreimal.
Endres/Schimmel, S. 27
Diese magische Überhöhung und die formelhafte Vereinfachung durch Zahlen lassen sich heute noch im Volksmärchen und in der Volksdichtung ablesen, wie die folgenden Beispiele zeigen.
Die dualistische 2
Oftmals treffen wir wie in „Frau Holle” oder in „Die zwei Brüder” auf Geschwister, die Gegensatzpaare darstellen: gut – böse, fleißig – faul, arm – reich. Diese beiden verkörpern den Dualismus, der als ein Zeichen des Unvollkommenen oder des Bösen gilt.
Aber manchmal verbünden sich wie in „Hänsel und Gretel” auch Geschwister, um das Böse zu besiegen. Dann gelten sie als Einheit und ergänzen sich.
Die vereinigende 3
Überwunden wird jede Dualität durch das Prinzip von These, Antithese und Synthese. Die 3 gilt im Christentum als Verkörperung der Trinität aus Vater, Sohn und Heiliger Geist. Doch auch die Kelten, Chinesen, alten Ägypter, Babylonier u.a. kennen Dreiergottheiten und bewerten die 3 als heilige Zahl.
Die 3 steht für Anfang, Mitte und Ende; für Geburt, Leben und Tod; für Körper, Seele und Geist etc. Im Märchen sind es 3 Wünsche, von denen der 3. in der Regel das auslöscht, was man sich leichtsinniger Weise vorher gewünscht hat. 3 Aufgaben muss der Held lösen. 3-mal kommt Rumpelstilzchen. 3 goldene Haare hat der Teufel.
3 Freunde erschafft auch Rowling, 3 Gegner stellt sie ihnen mit Crabbe, Draco und Goyle an die Seite. Die Dreiheit findet sich auch in den Häusern Ravenclaw, Gryffindor und Hufflepuff, denen das Haus Slytherin entgegensteht, das von Salazar Slytherin ohne Wissen der 3 Schulgründer:innen geschaffen wurde.
Auch in Otfried Preußlers „Krabat” begegnet uns die 3. 3-mal ruft der Meister Krabat, 3-mal versucht Krabat wegzulaufen, um 3 Jahre altern die Burschen in einem Jahr auf der Mühle, 3 Jahre umfasst die Handlung.
Diese wiederkehrenden Muster dienen neben der Symbolbildung auch der Strukturierung, die Verlässlichkeit schafft – für die Schreibenden ebenso wie für die Lesenden.
Zahl contra Wort
Nicht eine einzelne Zahl, sondern die beiden kulturhistorischen Antipoden Wort und Zahl wählt Nicola Huppertz in ihrem Kinderroman „Schön wie die Acht”, um ihren Protagonisten zu charakterisieren und den Handlungsverlauf zu gestalten. Der Kinderroman stand auf der Auswahlliste des Deutschen und des Deutsch-Französischen Jugendbuchpreises und wurde mit dem Evangelischen Buchpreis 2022 ausgezeichnet.
Der 12-jährige Malte ist Mathe-vernarrt und sagt:
Die Acht ist das Schönste, was ich kenne. Alle Zahlen sind schön, aber die Acht ist perfekt. Man kann sie an zwei Symmetrieachsen spiegeln und sie hat nicht diese ganzen Schwänzchen und Häkchen wie die anderen Zahlen. (…) Und wenn man sie auf die Seite legt, bedeutet sie Unendlichkeit.
Huppertz, S. 5
Alles, was sich nicht messen, ordnen oder logisch erklären lässt, löst bei Malte zu Beginn des Romans starkes Unbehagen aus. Zahlen geben ihm Gewissheit, mit Gedichten dagegen kann er gar nichts anfangen. Huppertz greift damit auf das traditionelle, kulturhistorische Narrativ zurück:
(…) das Wort sei eine unzuverlässige, unbestimmte, buchstäblich unberechenbare Größe, während die Zahl mit Ordnung, Gewissheit und Rationalität assoziiert wird.
Strätling, S. 3
Gekonnt wirbelt Huppertz Maltes Leben gehörig durcheinander, indem sie eine Stiefschwester, von der Malte bisher nichts wusste, zu Hause einziehen lässt. Diese Schwester ist bockig, liebt Gedichte und ist in Mathe eine Niete. Kurz darauf taucht Lale, eine Schülerin der IGS, in Mats Matheclub auf. Lale ist „schön wie die Acht” und sorgt zusätzlich für verwirrende Gefühle, mit denen Malte erst lernen muss umzugehen.
Am Ende dieses Entwicklungsprozesses findet Malte (nicht nur) einen Zugang zu Gedichten. Seine Faszination für die Mathematik verliert er dadurch glücklicherweise nicht, denn Zahlen und Gedichte sind in diesem Kinderbuch nur anfangs Gegensätze. Dass Zahlen und Worte einander durchaus ergänzen können, wird spätestens deutlich, als Lale begründet, warum die 11 ihre Lieblingszahl ist:
Die Elf, das sind zwei Leute. Einer stolpert ein bisschen unsicher hinter dem anderen her. Da bleibt der Vordere stehen, dreht sich zu dem Hinteren um und streckt ihm seine Hände entgegen. Und sie werden ein M (wie miteinander).
Huppertz, S. 128
Die 11 als eine Zahl des Miteinanders. Noch mehr Poetik geht kaum!
2+2=5?
Zahlen stehen oft also für Gewissheiten, manchmal sogar als Symbol für allgemeingültige Grundlagen. Tatsache ist – zumindest mit Bezug auf die rein arithmetischen Basissysteme -, dass 2 Finger plus 2 Finger niemals etwas anderes als 4 Finger ergeben, egal, was die Finger symbolisieren, auch wenn verschiedene Stämme und Kulturen mit unterschiedlichen Zahlensystemen rechn(et)en. (Gardner, S. 118.)
Niemals?
Erinnern wir uns an die Folterszene in George Orwells „1984”, in der die 4 Finger O’Brians vor Winston Smith‘ Augen zu 5 Fingern verschwimmen und 2+2 plötzlich nicht mehr 4, sondern 5 ergibt. Hier symbolisiert das Zahlensystem als Ganzes die Willkürordnung eines Staates, in dem 2+2=5 gilt. Es ist eine Warnung, die aktueller nicht sein könnte: Terror, Willkür und Gewalt zerstören die Grundlagen unseres Wissens und damit auch unseres Lebens.
Orwell greift diese Gleichung nicht zufällig auf. Kant und Descartes haben die Gleichungen 2+2=4 bzw. 2+3=5 als unumstößliche Wahrheiten und Grundpfeiler der Logik bezeichnet. Der Stalinismus hat diese Gewissheiten ad absurdum geführt. Susanne Strätling verweist im Rahmen ihrer Abhandlung „2+2=5” auf ein sowjetisches Plakat aus dem Jahr 1931, auf dem diese Gleichung abgedruckt ist. Darauf forderte die Sowjetunion ihre Bürger:innen auf, den 1928 gestarteten 5-Jahres-Plan in nur 4 Jahren zu erfüllen.
Politischer kann Zahlensymbolik also kaum sein. Wenn die Verwirrung so groß wird, dass das Zahlensystem per se nicht(s) mehr gilt, dann stehen alle Gewissheiten auf dem Prüfstand.
Die 0 und das NICHTS
Viel Verwirrung stiftete auch die 0, als sie in die Arithmetik übernommen wurde. Ursprünglich war sie eine „nulla figura”, „kein Zeichen”. Dennoch gibt sie dem Nachfolgenden seinen Rang. Mathematisch ausgedrückt: Die 0 ist nicht NICHTS.
Mathematisch kommt die leere Menge { } dem am nächsten, was wir unter dem NICHTS verstehen. Sie kann als die Menge definiert werden, die NICHTS enthält. Aber: Im Gegensatz zum NICHTS existiert die leere Menge, sonst wäre sie ja keine Menge. (Und daran siehst du, wie schnell diese Diskussion theoretisch werden kann.)
Bei der 0 dagegen ist es viel klarer. Die 0 nämlich ist eine Zahl, die den Vorgänger -1 und den Nachfolger +1 hat. Und wenn 0 Äpfel in einem Korb liegen, dann sind keine Äpfel darin.
Das NICHTS verfügt nicht über diese Eigenschaften. Es hat weder einen Vorgänger noch einen Nachfolger. Und wenn keine Äpfel in einem Korb liegen, dann ist ja auch nicht NICHTS da. Den Korb sehen wir ja vor uns.
Aber was ist NICHTS dann überhaupt?
Dahinter verbirgt sich immer auch eine existenzialistische, philosophische Frage.
Laut Definition existiert das Nichts nicht, aber die Vorstellung, die wir davon haben, existiert.
Gardner, S. 11
Deshalb hält Alice in „Alice im Wunderland” von Lewis Carroll es auch zu Recht für Unsinn, als der Schnapphase ihr beim 5-Uhr-Tee nicht vorhandenen Wein anbietet. Sie antwortet zornig:
Dann war es auch nicht sehr höflich, welchen anzubieten.
Carroll, S. 85
Dass das NICHTS verheerende Auswirkungen haben kann, erfährt Dorothy in „Dorothy und der Zauberer in Oz”, als sie auf den Hersteller von Löchern (in Schweizer Käse, Knöpfen, porösem Pflaster usw.) trifft, der Stangenlöcher gesammelt hat, die er Ende an Ende in die Erde steckte. Leider fiel er hinein.
Und entfliehen kann Bastian in der „Unendlichen Geschichte” dem NICHTS und dem NICHTS-sein, das sowohl Phantásien als auch ihn selbst bedroht, nur kraft seiner Fantasie.
Über das NICHTS schreiben also nicht nur Wissenschaftler:innen, sondern auch Kinder- und Jugendbuchautor:innen. Spannend finde ich daran, dass das NICHTS ein abstraktes Konzept mit verschiedenen Bedeutungsebenen ist, das schnell zu weiteren Fragestellungen führt.
Was zum Beispiel ist das Gegenteil von NICHTS?
Vermutlich wirst du sofort antworten: ALLES.
Aber was aus semantischer oder linguistischer Perspektive so klar erscheint, ist mathematisch komplexer. Die Mathematik selbst kennt nämlich gar keine größtmögliche Zahl und damit kein ALLES.
Der mathematische Beweis dieser Behauptung ist schnell erbracht. Da er aber recht abstrakt ist, möchte ich zunächst einmal einen kleinen Exkurs zu den sehr großen Zahlen und zu Wachstumsprozessen machen. Dadurch wird der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Theorie hoffentlich klarer.
Aus wenig wird viel
Früher galt die 1000 als allumfassende Zahl. Die 1001, die diese mächtige Zahl sogar noch um eins überschreitet, wurde zum Ausdruck für „unzählig, unendlich”. Heute kennen selbst die Kleinsten viel höhere Zahlen.
Als klassisches Beispiel für sehr große Zahlen, die durch schnelles Wachstum erzeugt werden, dient oft die sogenannte Schachbrett-Legende. Darin gewährt ein tyrannischer Herrscher einem weisen Mann einen Wunsch. Der Weise denkt ein wenig nach, dann wünscht er sich Reis. Er sagt, dass auf das 1. Feld eines Schachbretts 1 Korn, auf das 2. Feld 2 Körner, auf das 3. Feld 4 Körner und auf jedes weitere Feld die doppelte Menge des vorherigen Feldes gelegt werden solle. Der Herrscher lacht über diesen vermeintlich bescheidenen Wunsch.
Was der tyrannische Herrscher nicht ahnt: Dieses Verdopplungsprinzip, ein Beispiel für Potenzmengen-Konstruktion und exponentielles Wachstum, führt so rasch zu hohen Zahlen, dass der Herrscher diesen Wunsch am Ende nicht erfüllen kann.
Dieses Prinzip hat Sven Völker in seinem Bilderbuch „Eine Million Punkte“ meisterhaft in Szene gesetzt. Dafür ist er 2019 von der New York Times ausgezeichnet worden, 2024 stand das Buch auf der Nominerungsliste zum Wissenschaftsbuch des Jahres.
Auf der ersten Doppelseite von „Eine Million Punkte“ steht ein einzelner Baum. Auf der nächsten Doppelseite werden daraus 2. Am Ende braucht Völker ein 6-seitiges Leporello, um 1.048.576 Punkte in einer Silhouette aus Wolkenkratzern unterzubringen. Und damit sind wir erst bei einer Potenz von 220!
Kehren wir zu unserer Schachbrettaufgabe zurück, dann ergeben sich auf dem 64. Feld so viele Reiskörner, dass die Weltproduktion überschritten wird.
Sowohl diese Legende als auch Völkers „Eine Million Punkte“ zeigen also sehr anschaulich, wie schnell aus ganz wenig sehr viel werden kann, ein Effekt, der im Hinblick auf aktuelle Krisen wie die Corona-Krise oder die Klima-Krise von großer Bedeutung ist, denn irgendwann – wir alle kennen diese viel diskutierten Kipp-Punkte – führt exponentielles Wachstum in der Natur zu einem Kollaps. Positiv betrachtet zeigt es aber auch, dass wir mit Gegenmaßnahmen oder -mitteln, die ebenfalls auf exponentiellem Wachstum basieren, solche Prozesse aufhalten oder eindämmen könn(t)en, bevor sie unumkehrbar werden.
ALLES
Doch während in der Natur Systeme ab einer bestimmten Größenordnung – einer größten Zahl – kollabieren, kennt die Mathematik, wie oben bereits erwähnt, keine größtmögliche Zahl und damit auch keinen Begriff wie ALLES.
Um das zu verstehen, betrachten wir ein Konstruktionsprinzip für die natürlichen Zahlen. Es beschreibt eine einfache Zuordnungsvorschrift zwischen Zahlen und Mengen. Zuerst wird 0 der leeren Menge { } zugeordnet. Dann wird 1 der Menge mit dem Element {0} zugeordnet, danach 2 der Menge mit den Elementen {0,1}, dann 3 der Menge mit den Elementen {0,1,2} usw. Intuitiv dürfte allen dieses Prinzip klar sein, denn es konstruiert nichts weiter als ein Nachfolgeprinzip. Immer 1 mehr.
Für den Beweis der Unendlichkeitskonstruktion sehen wir uns dann in einem zweiten Schritt die sogenannte Mächtigkeit von Teilmengen einer Menge an. Als Beispiel wählen wir aus obigem Konstruktionsprinzip die Menge {0,1}. Diese hat die Mächtigkeit 2, denn sie besitzt 2 Elemente. Die Menge ihrer Teilmengen aber ist deutlich größer: Sie umfasst {0,1}, {0}, {1} und { }, hat also die Mächtigkeit 4. Damit ist für jede (!) Menge die Menge ihrer Teilmengen um ein Vielfaches größer als sie selbst.
Eine größtmögliche Menge, mathematisch ausgedrückt: ein größtmögliches Aleph, das Symbol für unendliche Mengen, gibt es also nicht, weil wir immer eine Menge finden, die noch größer ist als die bereits genannte. ALLES ist also ein Widerspruch in sich selbst und existiert deshalb im eigentlichen Sinn nicht.
Dessen ungeachtet reden Philosoph:innen, Theolog:innen und Literaturwissenschaftler:innen trotzdem über ALLES. Logisch betrachtet muss ALLES alles enthalten, das war, ist und sein wird; auch das NICHTS ist ein Teil von ALLES.
Aber was gibt es, das es nicht gibt?
In einem ihrer ersten Romane, dem dystopischen und heute nur noch antiquarisch zu beziehenden „Murus“ schafft Martina Wildner eine Welt, die durch eine rätselhafte, unüberwindbare Mauer getrennt ist und in der es unsichtbare Mauern, (offene und geschlossene) einseitig unsichtbare Fenster, fast unsichtbar wandernde Türen und ähnliche Absurditäten gibt.
Du siehst ja, dass es möglich ist. Dank der Muralistik gibt es allen möglichen Quatsch.
Wildner, S. 327
Die Theorie der Muralistik schreibt Wildner dem gottgleichen Alef Bustani zu, der die Mauer über 300 Jahre zuvor erschaffen haben soll. Als Alef ist er nicht nur der Erste (Alef war der 1. Buchstabe im phönizischen und hebräischen Alphabet), sondern verkörpert auch die Unendlichkeit, die Gesamtheit, kurz gesagt: ALLES.
Wenn Alef am Ende stirbt, dann stirbt also wortwörtlich ALLES.
Was kommt danach?
Keine:r weiß es.
Und so lässt uns Wildner im Ungewissen, denn wenn ALLES nicht mehr ist, dann ist auch NICHTS nicht mehr.
Fazit
Im Rückblick sehen wir, dass Zahlensymbolik in der Literatur, speziell in der Kinder- und Jugendliteratur, sehr vielfältige Bedeutungen hat und Zuschreibungen immer von ihrem Kontext abhängen.
Eine formelhafte Verwendung finden wir fast ausschließlich in Märchen oder in Klassikern wie der Odyssee.
In aktuellen Kinder- und Jugendbüchern ist der Rückgriff auf Zahlen vielfältiger, wie am Beispiel der unterschiedlichen Verwendung der 7 in Rowlings „Harry Potter“ und Linda Wolfsgrubers „Sieben. Die Schöpfung“ deutlich wird. Während Rowling mit der 7 spielt, greift Wolfsgruber auf die christliche Tradition zurück und interpretiert sie im Hinblick auf aktuelle gesellschaftliche Debatten neu.
Doch Zahlensymbolik geht noch weiter. Manchmal führt sie über die poetologische Verwendung wie in Otfried Preußlers „Krabat“ zu politischen Botschaften wie in George Orwells (Erwachsenen-)Klassiker „1984“ oder zu philosophischen Spielereien wie in Martina Wildners „Murus“ oder in Michael Endes „Die unendliche Geschichte“.
Dass das literarische Spiel mit Zahlen genauso großartig sein kann wie das mit Worten, zeigen der Kinderroman von Nikola Huppertz „Schön wie die Acht“ oder das Bilderbuch von Sven Völker „Eine Million Punkte“.
Aber natürlich kann ein so „kurzer“ Beitrag wie dieser das Thema nicht erschöpfend behandeln. Fallen dir weitere Beispiele ein? Dann schreibe sie gern in die Kommentare.
(Heinke Ubben, 10.4.2024)
Primärliteratur
- Baum, L. Frank: Dorothy und der Zauberer in Oz, Leipzig: Michael Neugebauer Verlag 1999.
- Carroll, Lewis: Alice im Wunderland, Hildesheim: Gerstenberg 1998.
- Ende, Michael: Die unendliche Geschichte, Stuttgart: Thienemann 1979.
- Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Eine Tragödie. Erster und zweiter Teil, München: dtv 2000, 4. Aufl.
- Huppertz, Nikola: Schön wie die Acht, München: Tulipan 2023, 4. Aufl.
- Orwell, George: 1984, Frankfurt a.M. – Berlin – Wien: Ullstein 1984.
- Preußler, Otfried: Krabat, Stuttgart: Thienemann 1981.
- Rowling, Joanne K.: Harry Potter, Hamburg: Carlsen 1997ff.
- Völker, Sven: Eine Million Punkte. Basel: Helvetiq 2023.
- Wildner, Martina: Murus, Berlin: Bloomsbury 2008.
- Wolfsgruber, Linda: Sieben. Die Schöpfung, Innsbruck und Wien: Tyrolia 2023.
- Yarros, Rebecca: Iron Flame. Flammengeküsst, München: dtv 2023, 3. Aufl.
Sekundärliteratur
- Albrecht, Andrea: Sieben. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole, hg. v. Günter Butzer und Joachim Jacob, Stuttgart: Metzler 2012, 2. erw. Aufl., S. 399f.
- Endres, Franz Carl/ Schimmel, Annemarie: Das Mysterium der Zahl. Zahlensymbolik im Kulturvergleich, München: Hugendubel 2005.
- Gardner, Martin: Mathematische Hexereien, Augsburg: Weltbild Verlag 1988.
- Haubrichs, Wolfgang: Zahlen. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole, hg. v. Günter Butzer und Joachim Jacob, Stuttgart: Metzler 2012, 2. erw. Aufl., S. 494-496.
- Heuser, Harro: Die Magie der Zahlen. Von der seltsamen Lust, die Welt der Zahlen zu ordnen, Freiburg i.B.: Herder 2004, 2. Aufl.
- Kaminski, Winfred: Einführung in die Kinder- und Jugendliteratur. Literarische Phantastik und gesellschaftliche Wirklichkeit, Weinheim und Stuttgart: Juventa 1998, 4. Aufl.
- Melchior, Lisa: Mythische Bezüge in J. K. Rowlings „Harry Potter”. Masterarbeit, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 2013. Abgerufen auf: https://www.mythos-magazin.de/mythosforschung/lm_rowling.pdf, am 19.3.2024 um 11.30 Uhr.
- Rohner, Isabel: Dreizehn. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole, hg. v. Günter Butzer und Joachim Jacob, Stuttgart: Metzler 2012, 2. erw. Aufl., S. 80.
- Strätling, Susanne: 2+2=5. Poetik der Dyskalkulie, oder Wort und Zahl im toten Winkel der Digital Humanities. In: Apparatus. Film, Media and Digital Cultures of Central and Eastern Europe 10/2020, S. 1-17. Abgerufen auf: https://refubium.fu-berlin.de/handle/fub188/28914, am 19.3.2024 um 11.30 Uhr.
Hinweis:
Eine ältere Version dieses Artikels ist erstmals erschienen in: 1000 und 1 Buch. Das Magazin für Kinder- und Jugendliteratur, hrsg. v. AG Kinder- und Jugendliteratur Österreich, Ausgabe 4/ November 08, S. 14–16. Für diesen Blog-Beitrag habe ich den früheren Artikel stark überarbeitet und mit aktuellen Buchbeispielen versehen.
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