[Rezension]
Dass ich ein großer Fan von den Büchern Marissa Meyers bin, wisst ihr vielleicht. Nun hat die amerikanische Autorin mit „Gilded – Die Versuchung des Goldes” eine düstere und vielschichtige Neuerzählung des Märchens „Rumpelstilzchen” vorgelegt. Es ist der erste Band einer Dilogie, in der sie märchenhafte Elemente zu einer außergewöhnlichen Geschichte verwebt, die trotz der bekannten Anklänge an Märchen und Mythen etwas vollkommen Neues erzählt.
Marissa Meyer ist für ihre meisterhaften Märchenadaptionen bekannt. Während sie in den „Luna-Chroniken” eine futuristische Märchenwelt beschreibt und in „Renegades” die moralischen Grauzonen einer Super-Helden-Welt auslotet, entführt sie uns in „Gilded” in eine düstere Dark-Fantasy-Welt, durchzogen von Mythen und Legenden.
Inhaltsverzeichnis
Worum geht es?
Serilda, die 18-jährige Protagonistin, lebt mit ihrem Vater in einem kleinen Dorf namens Märchenfeld. Ihre Gabe, Geschichten zu erzählen, wurde ihr von der Göttin Wyrdith verliehen – der Patronin von Schicksal, Lügen und Erzählkunst. Serildas Gabe wird von der Dorfgemeinschaft als Fluch empfunden: Sie wird misstrauisch beäugt und ihre Worte werden als Lügen abgetan. In ihren Pupillen trägt Serilda das goldene Rad des Schicksals, ein sichtbares Zeichen ihrer Verbindung mit der Göttin.
Serildas Einfallsreichtum und Mut, ihre Neugier und ihr Mitgefühl zeigen sich schon früh in der Geschichte. Sie verfügt über Selbstbewusstsein und großes Selbstvertrauen, das sich auch dann zeigt, wenn sich der Schleier zwischen der Welt der Lebenden und der Toten bei Vollmond lüftet. In diesen Nächten zieht die Wilde Jagd durch das Land, angeführt vom Erlkönig.
Als die Wilde Jagd eines Tages auch nach Märchenfeld kommt, rettet Serilda zwei Moosweiblein vor dem sicheren Tod. Um den Zorn des Erlkönigs zu besänftigen, behauptet sie, Stroh zu Gold spinnen zu können – eine Lüge, die ihr zum Verhängnis wird, denn der Erlkönig verlangt Beweise für ihre Behauptung und entführt sie in sein Schloss.
Wie im Märchen „Rumpelstilzchen” muss Serilda dort Stroh zu Gold spinnen. Dreimal erhält sie Hilfe von Gild, einem geheimnisvollen Poltergeist; dreimal muss sie ihm etwas schenken, denn Gilds Magie funktioniert nur mit Gegenleistungen. Unerwartet entspinnt sich zwischen den beiden eine zarte Liebesgeschichte, die von einer ungeheuren Forderung des Erlkönigs überschattet wird.
Was ist das Besondere an diesem Buch?
Märchenhafte und vielschichtige Handlung
Die Handlung von „Gilded” entwickelt sich von einer scheinbar einfachen Märchenerzählung zu einem komplexen Geflecht aus Rätseln und Intrigen. Die Fragen, warum der Erlkönig so viel Gold braucht oder warum sich Gild nicht an seine Vergangenheit erinnern kann, bleiben lange unbeantwortet. Marissa Meyer kombiniert geschickt Elemente aus bekannten Märchen und Sagen wie „Rumpelstilzchen”, dem „Erlkönig”, über „Die Wilde Jagd” oder aus „König Midas”, ohne dass der Eindruck einer bloßen Kopie entsteht.
Metafiktionale Reflexion über das Erzählen von Geschichten
Geschickt baut die Autorin Serilda als Geschichtenerzählerin auf, die nach Wahrheiten sucht und im übertragenen Sinne Lügen zu Gold spinnt. So wird die Geschichte sowohl auf der narrativen als auch auf der metafiktionalen Ebene immer komplexer. Immer wieder reflektiert Serilda über die Bedeutung von Geschichten und ihre Macht, Wahrheit und Lüge miteinander zu verknüpfen.
An einer Stelle sagt sie zum Erlkönig:
„Ich finde Gefallen an guten Geschichten. Es macht mir Spaß, wenn sie eine unerwartete Wendung nehmen. Interessant finde ich allerdings, dass nicht einmal Ihr die letzte Wendung zu kennen scheint, die diese Geschichte erfahren wird.”(S. 524)
Serilda will nicht nur wissen, was aus ihrer Mutter geworden ist, sondern auch, ob die Macht des Erlkönigs gebrochen werden kann. Als sich Körnchen ihrer vermeintlichen Lügengeschichten als wahr herausstellen, ergeben sich interessante Plot-Twists, die auch metafiktionale Fragen aufwerfen.
Figuren voller Tiefe und Widersprüche
Serilda ist eine faszinierende Protagonistin. Ihre Gabe macht sie zur Außenseiterin, gleichzeitig ist es ihre Fantasie und Kreativität, die ihr Überleben sichert. Sie ist mutig und klug, aber auch verletzlich.
Gild – der Vergoldetgeist, wie er von manchen liebevoll genannt wird – bringt Leichtigkeit in die düstere Atmosphäre der Geschichte. Seine humorvollen Bemerkungen und seine wachsende Zuneigung zu Serilda bilden einen wunderbaren Kontrast zur allgegenwärtigen Bedrohung.
Der Erlkönig selbst ist ein meisterhaft gestalteter Antagonist: grausam, manipulativ und unberechenbar. Seine Motive bleiben lange im Dunkeln, was ihn umso faszinierender macht.
Düstere Stimmung und poetische Übersetzung
Marissa Meyers Beschreibungen sind detailreich und eindringlich, man spürt förmlich die Kälte des Schlosses und hört das Heulen der Wilden Jagd in der Nacht. Immer wieder wird die düstere Stimmung durch humorvolle oder romantische Momente aufgelockert. Anne Brauner hat die Poesie der Geschichte in der deutschen Übersetzung wunderbar eingefangen.
Viele Beschreibungen sind dennoch nichts für jede:n: Der Tod spielt eine zentrale Rolle und Marissa Meyer scheut sich nicht, auch grausame Details zu beschreiben – von den schrecklich geformten Gespenstern im Schloss des Erlkönigs bis hin zu den grausam entstellten Opfern der Wilden Jagd.
Wem empfehle ich dieses Buch?
„Gilded – Die Versuchung des Goldes” ist der großartige Auftakt einer neuen Dilogie von Marissa Meyer. Mit ihrer Mischung aus Märchenadaption, düsterer Fantasy und poetischer Erzählkunst schafft sie eine Geschichte, die durch eine dichte Atmosphäre, komplexe Charaktere und spannende Rätsel besticht.
Fans von Märchen wie Neil Gaimans „The Graveyard Book” oder Naomi Noviks „Das dunkle Herz des Waldes” werden dieses Buch lieben. Zum Glück lässt die Fortsetzung nicht lange auf sich warten: Bereits im Februar 2025, also in diesem Monat, erscheint der abschließende Band „Cursed – Der Fluch des Mondes”.
(Heinke Ubben, 4.2.2025)
Rezensiert wurde:
Marissa Meyer
Gilded. Die Versuchung des Goldes
Übersetzung: Anne Brauner
arsEdition: München 2024
ISBN: 978-3-8458-5721-3
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