[Rezension]
„Sepia und das Erwachen der Tintenmagie” von Theresa Bell spielt in einer magischen und atmosphärisch dichten Welt voller Bücher und Tinte. Elf Verlage hatten verschiedenen Berichten zufolge auf dieses Debüt geboten. Immer wieder las ich von einer neuen Tintenwelt, ja sogar von einem neuen Harry Potter war die Rede. Das machte mich natürlich neugierig. Ist dieser Roman tatsächlich der neue fantastische Bestseller, auf den wir alle warten?
Inhaltsverzeichnis
Worum geht es?
Es ist Perlnacht. Eine einsame Kutsche rumpelt durch nebelverhangene Straßen. Ihr einziger Gast: eine Waise namens Sepia. Die Zwölfjährige besitzt nicht mehr als ein kleines Bündel an Kleidung – und einen geheimnisvollen Brief von Silbersilbe, dem berühmten Meister der Buchdruckerkunst, „über den man hinter vorgehaltener Hand tuschelte, seine Bücher würden mit Diamanten bezahlt” (S. 16). Er gehört zu einem legendären Meister-Trio.
Die drei Meister machten Bücher, von denen man sagte, die Bilder würden sich darin bewegen, das Leder, in das sie eingeschlagen waren, würde leise atmen und die Tinte würde duften.
S. 16
Nun hat also ausgerechnet Sepia von Silbersilbe eine Einladung erhalten, nach Flohall zu kommen und bei ihm eine Lehre zu beginnen.
Warum sie? Ja, das wüsste Sepia auch gern! Sie ist Silbersilbe nie zuvor begegnet und es ist ihr ein Rätsel, woher er ihren Namen kennt. Außerdem hat sie sich in der Vergangenheit nie besonders geschickt angestellt oder anderweitig hervorgetan.
Doch eine Einladung in die sagenumwobene Stadt Flohall, in der Bücher und Tinte wertvoller sein sollen als Gold, kann Sepia natürlich nicht ablehnen. Sie liebt Tinte über alles und ist außerdem viel zu neugierig, um sich ein solches Abenteuer entgehen zu lassen.
Silbersilbe heißt sie denn auch herzlich willkommen, aber ihre Tollpatschigkeit macht sie zur Zielscheibe für den Spott der anderen Lehrlinge. Zum Glück lernt sie schon bald Niki und Sanzio kennen. Niki ist die Tochter von Perugia, Meisterin der Buchmalerei, und Sanzio der Lehrling von Seidenhand, Meister des Buchbindens. Die drei freunden sich an und erkunden zusammen Flohall.
Als sie eines Tages ihre Meister:innen belauschen, erfahren sie von gefährlichen Geheimnissen. Gleichzeitig verüben Unbekannte Anschläge auf die Buchdruckerwerkstatt und andere Orte der Stadt. Die drei fragen sich, was ihre Meister:innen verbergen. Und was haben die Anschläge mit deren Geheimnissen zu tun? Als ihre Meister:innen kurz darauf verschwinden, müssen Sepia, Niki und Sanzio Hals über Kopf fliehen, denn Sepia besitzt noch einen Rest wertvoller Tinte, auf die die Unbekannten es anscheinend abgesehen haben.
Mein Eindruck
„Sepia und das Erwachen der Tintenmagie” von Theresa Bell lebt von einer wunderbaren Atmosphäre, fantastischen Ideen und einem tollen Worldbuilding. Von der ersten Zeile an war ich im Bann von Flohall. Eine eigene Zeitrechnung, dazu eine klapprige Pferdekutsche im Nebel, eine märchenhafte Stimmung und ein lebendiger Stil – was braucht es mehr?
Perlnacht
Eismond 1, der erste Monat des neuen JahresDie klapprige Pferdekutsche passierte die Stadtgrenze von Flohall um Mitternacht, und dicke Nebelschwaden folgten ihr wie schüchterne Gespenster. Hoch oben am Himmel glänzte der Mond wie eine Silbermünze. Vorne auf der Kutsche saß ein grimmiger Mann und hinten ein Mädchen, das der Grund für seine schlechte Laune war.
S. 7
Geschickt nutzt Theresa Bell die Unkenntnis ihrer Protagonistin, um uns Lesende durch Flohall zu führen. Gemeinsam mit Sepia lernen wir nicht nur Bräuche, Feste und Besonderheiten Flohalls kennen, sondern auch den Alltag in der Druckerei Silbersilbe. Wir lesen von magischer Tinte, von Bleilettern, die plötzlich lebendig werden, und von Bleiläusen, walnussgroßen Wesen, die außer Sepia anscheinend niemand sehen kann.
Sepia selbst ist anfangs oft zurückhaltend und wenig aktiv. Theresa Bell begründet die Vorsicht ihrer Protagonistin mit deren Unsicherheit. Ihr Leben lang hat Sepia gespürt, dass sie anders ist als alle anderen und nicht wirklich dazugehört. In der Druckerei Silbersilbe, wo alles nach Tinte duftet, fühlt sie sich zum ersten Mal zu Hause. Leider sind da aber noch die anderen Lehrlinge, die sie ständig wegen ihrer Ungeschicklichkeit hänseln. Deshalb fürchtet sie immer wieder, die Druckerei verlassen zu müssen.
Da Sepia zwar Fragen stellt, aber nicht auf Antworten beharrt, tappen auch wir Lesenden über weite Strecken im Dunkeln. Theresa Bell setzt das bewusste Zurückhalten von Informationen als Mittel ein, um Spannung aufzubauen. An dieser Stelle hätte ich mir ein wenig mehr Raffinesse gewünscht. Eine einzige Frage, bei der Sepia insistiert, dass Silbersilbe ihr antwortet, hätte viele Rätsel deutlich eher gelöst. Dass die Autorin das nicht wollte, liegt auf der Hand. Aber Sepias Haltung ist angesichts ihrer dreitägigen Kutschfahrt, die sie in eine völlig fremde Umgebung bringt, anderer Wagnisse, die sie eingeht, und dem Bedürfnis, mehr über Silbersilbes seltsame Einladung und ihre Herkunft zu erfahren, für mich nicht immer plausibel gewesen.
Der Ideenreichtum und die Lebendigkeit, mit denen Theresa Bell das fantastische Abenteuer von Sepia, Niki und Sanzio erzählt, wiegen solche Kleinigkeiten allerdings tausendmal wieder auf. Die Autorin verwebt klassische Elemente und fantasievolle Neuschöpfungen aus dem Bereich der Buchdruckerkunst zu einem spannenden Fantasy-Abenteuer, bei dem nicht nur die Tintendiebe, eine Bande, die in bester Robin-Hood-Manier für das Gute kämpft, und der magische Mitternachtsmarkt eine besondere Rolle spielen, sondern auch ein gewalttätiger Bösewicht, der unterhalb Flohalls in einem riesigen Eisenschloss haust und nichts weniger als die Macht über Leben und Tod will. Die Geschichte ist fesselnd bis zum finalen Showdown in den unterirdischen Katakomben.
Zu der besonderen Atmosphäre dieses Buchs tragen auch die wunderbaren, in Schwarz-Weiß gehaltenen Kapitelvignetten der Illustratorin Eva Schöffmann-Davidov bei, die in ihrem Stil auf die Buchkunst früherer Jahrhunderte verweisen.
Beim Anblick des Covers musste ich sofort an „Nevermoor” von Jessica Townsend denken. Die Darstellungen der Protagonistinnen und der glitzernde Detailreichtum beider Bücher tragen unverkennbar die Handschrift der Illustratorin. Das ist clever arrangiert, denn wer „Nevermoor” mag, der wird auch „Sepia und das Erwachen der Tintenmagie” lieben.
Das Debüt von Theresa Bell ist der Spitzentitel dieses Frühjahrs bei Thienemann. Deshalb hat sich der Verlag einiges ausgedacht, um das Buch zu vermarkten. Wer mehr über Flohall und seine Geheimnisse erfahren möchte, sollte deshalb unbedingt einen Blick auf die Homepage des Verlags werfen. Dort gibt es jede Menge Zusatzmaterial: vom Geheimrezept der berühmten „Flohaller Zimtmilch” über einen Jahreskalender zum Ausdrucken bis hin zur Ausschreibung eines Kalligrafie-Wettbewerbs.
Für wen empfehle ich dieses Buch?
Wer Lesefutter sucht, ist mit „Sepia und das Erwachen der Tintenmagie” von Theresa Bell bestens beraten. Dieses Buch eignet sich perfekt für Kinder ab zehn Jahren, die fantastische und spannende Romane lieben. Der Text ist leicht geschrieben, hat einen einfach zu verfolgenden Handlungsaufbau und beeindruckt durch atmosphärische Bilder und fantasievolle Wortschöpfungen.
Mit 384 Seiten ist das Buch ein etwas dickerer Schmöker, der lesehungrigen Kindern sicherlich keine Mühe bereitet, an dem aber Kinder, die wenig bis gar nicht lesen, allein schon wegen des Umfangs scheitern könnten.
(Heinke Ubben, 14.5.2024)
Rezensiert wurde:
Sepia und das Erwachen der Tintenmagie
Theresa Bell
Illustration: Eva Schöffmann-Davidov
Thienemann Verlag: Stuttgart 2024
ISBN: 978-3-522-18658-2
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