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Ein Blog zur Kinder- und Jugendliteratur



Das Foto verweist auf den Titel "Flucht in der Kinder- und Jugendliteratur" im Rahmen eines Literarischen Salons in der Silke-Weitendorf-Stiftung

Flucht in der Kinder- und Jugendliteratur

Vor Kurzem war ich zu einem Literarischen Salon über „Flucht in der Kinder- und Jugendliteratur” in der Silke-Weitendorf-Stiftung in Hamburg-Duvenstedt.

Vielen wird Silke Weitendorf bekannt sein: Sie ist die Tochter von Heidi Oetinger, die gemeinsam mit ihrem Mann Friedrich den Oetinger Verlag in Hamburg aufgebaut hat. Silke Weitendorf war lange Zeit selbst als Verlegerin tätig und soll das erste Kind gewesen sein, das die deutsche Ausgabe von Pippi Langstrumpf gelesen hat.

Die gesamte Familie war eng mit Astrid Lindgren befreundet, was in diesem Haus in Hamburg-Duvenstedt, wo der Oetinger Verlag bis 2020 seinen Sitz hatte, überall zu spüren ist.

Silke Weitendorf begrüßte alle Teilnehmenden überaus herzlich. Ich war beeindruckt von den tollen Räumlichkeiten, vor allem von dem großen Porträt Astrid Lindgrens über dem Kamin – und von der besonderen, beinahe familiären Atmosphäre, die mich an das erinnerte, was ich über Astrid Lindgren gelesen habe: Dass sie allen immer das Gefühl gegeben haben soll, willkommen zu sein!

Den Abend eröffnete die Gastgeberin Silke Weitendorf mit einem besonderen Dank an den Referenten Prof. Dr. Tobias Kurwinkel von der Universität Hamburg.

Inhaltsverzeichnis

Vortrag von Tobias Kurwinkel

Tobias Kurwinkel begann seinen Vortrag über „Flucht in der Kinder- und Jugendliteratur” mit dem Hinweis, dass er selbstverständlich nur einen kurzen Einblick in diese umfassende Thematik geben könne.

Grundlagen und Allgemeines

Im Kontext der poetischen und didaktischen Dimensionen des Themas stellte Prof. Dr. Tobias Kurwinkel eine zentrale Frage in den Mittelpunkt:

Kann bzw. darf ein Mensch, der nie eine Fluchterfahrung gemacht hat, überhaupt eine Geschichte über eine Flucht erzählen oder illustratorisch darstellen? Schließlich werde Literatur ja immer auch ein Realitäts- und Authentizitätsanspruch zugeschrieben.

Aber was bedeutet das eigentlich?

Stellen wir uns den literarischen Schaffensprozess einmal vor!

Tobias Kurwinkel beschrieb ihn so: Autor:innen und Illustrator:innen schaffen Figuren, die sie mithilfe von Außen- und Innenperspektiven in literarische Welten versetzen. Dadurch würden Imaginationen, also Illusionen von Realität, erzeugt, durch die sich die Lesenden mit dem Text und den Illustrationen verbänden.

Das aber heißt: Literatur ist grundsätzlich fiktional, so authentisch sie uns auch erscheinen mag. Sie bildet also weder Wirklichkeit ab noch ist sie eine Referenz für die Wirklichkeit.

Dennoch müsse – vor allem in der Kinder- und Jugendliteratur – aufseiten der Lesenden immer der Eindruck entstehen, diese (Flucht-)Geschichte könnte sich so zugetragen haben oder künftig in der geschilderten Form ereignen.

Deshalb folge jede Geschichte gewissen Regeln, mit denen Autor:innen und Illustrator:innen Lebendigkeit, Spannung und Wirklichkeitsnähe schafften. Als Beispiel verwies er auf das Modell der Heldenreise, die vielen wohl bekannt sei.

Erstaunlich war für alle Anwesenden, dass die meisten der zwischen 2014 und 2024 in Deutschland erschienenen Bücher im Rahmen der Motivkonstellation „Flucht” Bilderbücher waren, wie eine eigene, nicht repräsentative Erhebung Tobias Kurwinkels ergeben hat, die er uns in seiner Präsentation zeigte. Kinder- und Jugendromane rangierten zahlenmäßig weit dahinter.

Gemeinsam stellten wir die These auf, dass im Bilderbuch aufgrund der Bildlichkeit wohl eine größere Distanz und Abstraktheit hergestellt werden könne als in Romanen.

Überraschend ist dieses Ergebnis aber auch deshalb, weil Motive in der Kinder- und Jugendliteratur oft an die Entwicklungsaufgaben der rezipierenden Kinder geknüpft würden, die für jüngere Kinder selbstverständlich weniger abstrakt und komplex ausfallen dürften als für ältere.

Warum funktionierten diese (Bilder-)Bücher aber trotzdem? Oder funktionierten sie gerade deshalb?

(Fast) alle Geschichten über „Flucht” basierten – zumindest in der Kinder- und Jugendliteratur – auf dem „Prinzip Hoffnung”. Kaum ein Buch ende negativ, denn so funktionierten Geschichten einfach nicht.

Darüber hinaus seien aber auch erzähltheoretische Grundlagen für Erzählungen konstitutiv. Insbesondere „Grenzen” fänden sich in der Literatur über Flucht überall. Ihre Überschreitungen stellten die „auslösenden Momente” dar.

In einem kurzen literaturwissenschaftlichen Exkurs nahm Tobias Kurwinkel Bezug auf seine Kollegen Martínez und Scheffel. Er veranschaulichte, dass jede Grenze den Raum in disjunkte, also unvereinbare Teile spaltet, die räumlich gesehen mit Heimat und Fremde beschrieben werden könnten. Diese Grenzen markierten zeitlich den Aufbruch (aus der Heimat) und die Ankunft (in der Fremde). In dem Zwischenraum, dem sogenannten Transitraum werde die eigentliche Flucht beschrieben, in der sich die Flüchtenden weder der Heimat noch der Fremde zugehörig fühlten, sondern auf ein (manchmal noch nicht zu benennendes) Ziel zustrebten. Hier verändere sich alles.

Diese Veränderungen ließen sich oft mit Gegensatzpaaren beschreiben, zum Beispiel mit „hoch-tief” oder „innen-außen”. Manchmal würden diese Paare auch mit Wertungen wie „gut-böse” oder „natürlich-künstlich” verknüpft. Betrachte man solche Gegensätze topografisch, erschienen sie zum Beispiel als „Berg-Tal” oder „Himmel-Hölle”.

Konkretisierung am Beispiel von „Akim rennt”

Am Beispiel des Bilderbuchs „Akim rennt” von Claude K. Dubois, erschienen 2013 bei Moritz, zeigte Tobias Kurwinkel dann, wie sich solche Gegensatzpaare konkret abbilden.

Cover des Bilderbuchs "Akim rennt" von Claude K. Dubois

„Akim rennt” ist ein vielfach prämiertes, skizzenhaftes Bilderbuch mit wenig Text von Claude K. Dubois, deren Zeichenstil an Käthe Kollwitz erinnert. Die Bilder gehen unter die Haut und zeigen, wie schutzlos nicht nur viele Kinder Krieg, Vertreibung und Flucht ausgesetzt sind.

Am Anfang sehen wir Akim als ein fröhliches Kind. Er spielt am Flussufer, wobei der Fluss eine natürliche Grenze markiert. Akim kann sich frei bewegen und der abstrakte Krieg scheint fern. Von einer Ebene blicken wir in die Berge.

Dann kommt der Krieg und wendet alles ins Gegenteil. Akim weint, weil das Haus zerstört ist und seine Eltern verschwunden sind.

Die oben genannten Gegensatzpaare sind in dieser Erzählung, die die Autorin nicht selbst erlebt hat, von Anfang an angelegt: Ebene und Berg, (konkreter) Frieden und (anfangs abstrakter) Krieg, Freiheit und Gefangenschaft, aber auch Fröhlichkeit und Verzweiflung, Sicherheit und Zerstörung.

Aber es kommt noch schlimmer: Soldaten nehmen Akim gefangen. Nun ist er vollkommen auf sich allein gestellt. Zum Glück kann er fliehen und rennt vom Tal nach oben, in die Berge. Dort trifft er auf andere Flüchtlinge. Mit dieser Gemeinschaft schafft er es in die Sicherheit eines Flüchtlingslagers, wo er auch seine Mutter wiederfindet.

In der sich anschließenden Diskussion, in der es um Bilderbücher im Allgemeinen und deren Zielgruppen ging, wurde angemerkt, dass sich „Akim rennt” wohl nicht vorrangig an Kinder richtet.

Weitere Buchvorstellungen

Zum Abschluss präsentierten Silke Weitendorf und Stephanie Schiller, die Geschäftsführerin der Weitendorf-Stiftung, weitere Bücher zum Thema „Flucht” und lasen einzelne Passagen daraus vor.

Die lange, lange Reise (Ilon Wikland)

Darunter war auch das vergriffene „Die lange, lange Reise” erzählt von Rose Lagercrantz, illustriert von Ilon Wikland.

Cover des Bilderbuchs "Die lange, lange Reise" von Rose Lagercrantz und Ilon Wikland

In diesem Buch verarbeitet die Astrid-Lindgren-Illustratorin Ilon Wikland ihre Flucht von Estland nach Schweden. Da ihre Großmutter, bei der sie aufwuchs, für die Flucht vor dem Krieg zu schwach war, wurde Ilon allein auf die „lange, lange Reise” nach Schweden geschickt, wo sie völlig erschöpft in ein Krankenhaus kam. Dort findet sie ihre Tante, eine Malerin, und nimmt sie bei sich auf. Die Farben und Bilder, die Ilon von ihr bekommt, geben ihr neue Hoffnung.

Neben mir ist noch Platz (Paul Maar)

„Neben mir ist noch Platz” von Paul Maar mit Illustrationen von Verena Ballhaus erzählt von einer syrischen Familie, die versucht in Deutschland heimisch zu werden.

Cover des Kinderbuchs "Neben ist noch Platz" von Paul Maar

Aischa hat in der neuen Schule kaum Freund:innen. Erst als sie Steffi hilft, kommen die beiden sich näher. Sie treffen sich nachmittags zum Spielen und laden sich gegenseitig in ihre Familien ein. Im Verlauf der Handlung werden die kulturellen Unterschiede zwischen den beiden (Familien) deutlich. Auch fließen Erlebnisse über die Flucht von Aischas Familie aus Syrien und über ihre neue Lebenssituation in Deutschland ein.
Im Gegensatz zu den obigen Bilderbüchern, die zum Teil düstere Illustrationen vom Krieg zeigen, eignet sich „Neben mir ist noch Platz” für jüngere Kinder aufgrund der farbenfrohen Bilder und der einfachen Sprache auch sehr gut zum Selberlesen.

Mit einem Koffer voller Bücher (Muzoon Almellehan)

Zum Selberlesen wurde auch das Lesestarter-Buch „Mit einem Koffer voller Bücher” von Muzoon Almellehan mit den Illustrationen von Friederike Ablang hervorgehoben. Darin erzählt die Autorin ihre eigene Fluchtgeschichte aus Syrien.

Cover des Kinderbuchs "Mit einem Koffer voller Bücher" von Muzoon Almellehan

Das Einzige, was sie einpackte, als ihr Vater sie bat, ihre Tasche für die Flucht zu packen, waren ihre Bücher. Im Flüchtlingslager in Jordanien setzte sie sich dafür ein, dass alle Kinder, vor allem Mädchen, die Schule besuchen konnten. Muzoon Almellehan wurde mit 19 Jahren zur weltweit jüngsten internationalen UNICEF-Botschafterin ernannt.
Mit seiner großen Schrift, kurzen Sätzen und vielen Illustrationen sowie kleineren Rätseln und Spielen richtet sich das Buch ausdrücklich an Erstleser:innen.

Wenn Worte meine Waffe wären (Kristina Aamand)

Wie sich eine Flucht auf das Leben und die gesamte Familie auswirken kann, zeigt Kristina Aamand in „Wenn Worte meine Waffen wären”.

Cover des Jugendbuchs "Wenn Worte meine Waffen wären", geschrieben von Kristina Aamand

Aamand erzählt darin eine lesbische Liebesgeschichte und verhandelt Rassismus ebenso wie religiösen Konservatismus. Als Siebenjährige ist Sheherazade mit ihrer Familie aus dem Westjordanland geflüchtet. Mittlerweile in Dänemark angekommen leidet sie unter den Traumata ihres Vaters und der religiösen Hinwendung ihrer Mutter. Den Erwartungen ihrer Eltern kann sie nicht gerecht werden, erst recht nicht, als sie sich in die emanzipierte Thea verliebt. Um ihre verwirrenden Eindrücke zu sortieren, beginnt sie zu schreiben. Die beeindruckenden collagierten Zines bilden zentrale Gestaltungselemente des Buchs.

All die Farben, die ich dir versprach (Zoulfa Katouh)

Das letzte Buch, das die Veranstalterinnen vorstellten, war von Zoulfa Katouh „All die Farben, die ich dir versprach”.

Cover des Jugendbuchs "All die Farben, die ich dir versprach" von Zoulfa Katouh

Darin wird die Geschichte von Salama erzählt, die während des Krieges in Homs im Krankenhaus arbeitet. Sie möchte Syrien verlassen. Aber dann lernt sie Kenan kennen. Er will bleiben, um im Internet auf das Leid in Syrien aufmerksam zu machen, und Salama muss sich entscheiden.

Ausgeklungen ist die Veranstaltung mit einem Beisammensein bei einem kleinen Snack. Es war ein toller Abend! Ich freue mich schon auf den nächsten Literarischen Salon in der Silke-Weitendorf-Stiftung.

(Heinke Ubben, 15.1.2024)

Vorgestellt wurden:
Akim rennt
Claude K. Dubois
Übersetzung: Tobias Scheffel
Moritz Verlag: Frankfurt a.M. 2013
ISBN: 978-3-89565-268-4
Leseempfehlung: ab 6 Jahren

Die lange, lange Reise
Rose Lagercrantz
Illustration: Ilon Wikland
Übersetzung: Angelika Kutsch
Oetinger: Hamburg 1996
ISBN: 978-3-789168185
Leseempfehlung: ab 6 Jahren

Neben mir ist noch Platz
Paul Maar
Illustration: Verena Ballhaus
dtv: München 2016
ISBN: 978-3423717007
Leseempfehlung: ab 7 Jahren

Mit einem Koffer voller Bücher
Muzoon Almellehan
Illustration: Friederike Ablang
Übersetzung: Ann Lecker
Oetinger: Hamburg 2021
ISBN: 978-3751201018
Leseempfehlung: ab 6 Jahren

Wenn Worte meine Waffe wären
Kristina Aamand
Illustration: Sune Ehlers
Übersetzung: Ulrike Brauns
Dressler: Hamburg 2018
ISBN: 978-3-7915-0098-0
Leseempfehlung: ab 13 Jahre

All die Farben, die ich dir versprach
Zoulfa Katouh
Übersetzung: Rasha Khayat
Dressler: Hamburg 2022
ISBN: 978-3-7513-0047-6
Leseempfehlung: ab 16 Jahre

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