[Rezension]
Warmherzig und lebendig erzählt Anna Maria Praßler in ihrem realistischen Kinderroman „Rettet Omas Boa! Mein Zirkus, das Dorf und ich” von Princess, die im Zirkus aufgewachsen ist und nun auf dem Dorf leben muss. Von heute auf morgen haben sie und ihre Mutter den Zirkus verlassen und sind zu Dem-Andi, einem Freund ihrer Mutter, gezogen. Onkel Sergio hat die beiden rausgeworfen – und daran gibt Princess sich selbst die Schuld. Lange wissen wir nicht, was sie getan hat. Es war für sie so schlimm, dass sie nicht davon zu erzählen wagt. Aber sie ist fest überzeugt, dass alles wieder gut wird, wenn sie ihrer Oma, einer Schlangentänzerin, ihre geliebte Schlange zurückbringt. Onkel Sergio nämlich hat Mr. Orange, Omas Boa constrictor, verkauft. Damit fing der ganze Ärger an.
Princess fasst einen Entschluss, der nicht nur das Dorf, sondern auch den Zirkus in Aufruhr versetzt.
Inhaltsverzeichnis
Worum geht es?
Zum ersten Mal übernachtet Princess in einem richtigen Haus. „Woanders als im Wohnwagen” (S. 8) hat sie noch nie geschlafen. Deshalb hat Princess auch keine gute Laune, eher läuft alles so mittel-gut.
Vielleicht wird unser Leben jetzt so, habe ich mir gedacht: mittel. Mittel-gut, mittel-schlecht, mittel-irgendetwas, aber nichts Richtiges mehr.
S. 6
Für Princess ist es seltsam, dass ihre Mutter glücklich zu sein scheint und mit Dem-Andi herumturtelt. Normal ist ein solcher Umzug schließlich nicht. Umziehen, das ist nur etwas für die Leute von privat – wie die Zirkusleute alle nennen, die nicht zu ihrer Gemeinschaft gehören -, aber nichts für Menschen wie sie und Mama, die im Zirkus aufgewachsen sind.
Wie geht es Mama jetzt? Eigentlich müsste sie stinksauer auf mich sein, weil Onkel Sergio ja nur wegen mir so komplett der Kragen geplatzt ist, aber im Grunde ist sie wie immer. Oder – vielleicht sogar irgendwie fröhlicher?
S. 22
Warum wundert sie sich über das alles hier eigentlich nicht? Über Bettdecken, die größer sind als die ganze Sofaecke in unserem Wohnwagen? Über all die tausend Dinge, die kein Mensch braucht, die hier aber ganze Zimmer vollstopfen?
Princess vermisst den Zirkusgeruch und die Lagerfeuer, an denen alle zusammensaßen und sie mit ihrer Oma Weidenkörbe geflochten hat. Sie vermisst die Tiere und ihre Zirkusfamilie, die immer zusammenhält … wobei in letzter Zeit – nun, ja, da hat es eigentlich ziemlich viel Krach gegeben.
Während sie sich erinnert, fällt Princess plötzlich ein, dass sie noch etwas verstecken muss. Einen Briefumschlag mit 87 Euro und 23 Cent. Hektisch sucht sie nach losen Dielenbrettern oder Geheimverstecken hinter Schränken. Vergeblich. Ihr bleibt nur der Platz unter ihrer Matratze.
Aber kann man auf einem Umschlag schlafen, der schuld an allem ist?
Princess kann. Sie schläft selig, bis sie am nächsten Morgen von der Sonne wachgekitzelt wird.
Trotz aller Veränderungen ist Princess zuversichtlich und voller Tatendrang. So schnell lässt sie sich nicht unterkriegen. In Emmi und Son, die in ihre Klasse gehen, findet Princess schnell neue Freund:innen. Nach der Schule bauen sie im Wald an einem Baumhaus und Princess darf „auf Probe” mitmachen.
Wenn doch nur endlich der so sehnsüchtig erwartete Anruf von Oma käme! Doch immer wenn Oma anruft, ist Princess nicht da oder zu spät am Telefon. Aber dann entdeckt sie zwischen all ihren Umzugssachen den halbfertigen Weidenkorb, an dem sie zuletzt mit Oma gearbeitet hat. Oma muss ihn für Princess heimlich in den großen Sack geschmuggelt haben. Ist das ein Zeichen? So wie in Omas uralten Geschichten, die sie Princess immer erzählt hat? Oma glaubt doch nicht etwa, dass Princess den Korb allein fertigstellen kann, oder?
… ein halbfertiger Weidenkorb. Der bedeutet: Ich hab dich lieb, Princess, du Prinzessin auf den 87 Euro und 23 Cent, mit denen du mir Mr. Orange zurückkaufen willst. Wenn du diesen Korb fertig hast, wird – ich weiß nicht genau, irgendetwas passieren. Vielleicht: Dann werden wir uns wiedersehen.
S. 54
So wäre es jedenfalls in einem von Omas Märchen.
Klar, dass Princess Omasundihren Korb jetzt fertig machen muss. Vielleicht kann sie ihn später verkaufen, um das fehlende Geld aufzutreiben, das sie braucht, um Mr. Orange, Omas Schlange, aus dem Reptilienzoo zurückzukaufen.
Wird es gelingen?
Lies selbst!
Das Besondere an diesem Roman
Der Roman, den Anna Maria Praßler um Princess, den Zirkus und das neue Dorf herum aufgebaut hat, beeindruckt durch liebenswerte, authentische Figuren, einen lebendigen Kosmos und eine im Kinderbuch selten gewählte Erzählform.
Authentizität und Vielfalt der Figuren
Das Figurenarsenal in diesem Kinderroman ist bunt. Vielfältige Lebensformen und unterschiedliche Formen des Zusammenlebens stehen gleichberechtigt nebeneinander.
Da ist zum einen die Zirkusfamilie, die Jenischen, wie sich die Fahrenden selbst bezeichnen. Anna Maria Praßler schildert sie als eine große Familie, die im Großen und Ganzen zusammenhält. Doch angesichts der Corona-Krise, die vor allem den Zirkusdirektor, Onkel Sergio, in finanzielle Nöte und nachvollziehbaren Stress bringt, kommt es zu Zerwürfnissen. Wie Anna Maria Praßler diese Konflikte entwickelt und schildert, finde ich sehr gelungen, denn sie verlässt an keiner Stelle die kindliche Figurenperspektive.
Die Hauptfigur Princess ist selbstbewusst und loyal. Dass sie außerdem eine gute Schülerin ist, zeigt, wie gekonnt Anna Maria Praßler mit gängigen Vorurteilen bricht. Onkel Sergio hat immer darauf geachtet, dass die Kinder im Zirkus auch dann Schulunterricht erhalten, wenn der Zirkus unterwegs ist.
Auf der anderen Seite gibt es Den-Andi und das Dorf. Schnell wird deutlich, dass Der-Andi ein liebevoller und engagierter Mann ist. Anfangs ist Princess Haltung ihm gegenüber noch unentschieden, schließlich kennt sie ihn nicht und der Hof, auf dem Der-Andi allein lebt und der von Son als „Gruselhof” bezeichnet wird, erscheint Princess nicht besonders einladend.
Die Menschen im Dorf sind so unterschiedlich wie du und ich. Son hat zwei Mütter, Emmis Eltern lassen sich gerade scheiden. Emmi ist Vegetarierin, aber ihr Vater will das nicht akzeptieren. Sons Mutter betreibt einen Biobauernhof. Emmis Vater besitzt einen Handwerksbetrieb. Der-Andi ist Pfleger in einem Krankenhaus und leitet in seiner Freizeit die Abteilung der Jugend-Feuerwehr.
Aus all diesen Konstellationen resultieren Konflikte, zu denen verschiedene Figuren unterschiedliche Meinungen haben. Es ist großartig gemacht, wie diese Positionen ausdiskutiert werden, ohne dass am Ende eine Meinung eine andere übertrifft bzw. übertreffen muss. Die einzelnen Standpunkte sind in diesem Buch immer begründet, und die Figuren sind trotz unterschiedlicher Standpunkte miteinander befreundet.
Position beziehen – Tierschutz
Am auffälligsten sind diese Diskussionen beim Thema „Tierschutz”. Emmi äußert schon bei der ersten Begegnung in der Klasse Bedenken gegenüber der Tierhaltung im Zirkus, aber Princess widerspricht.
Als alle Kinder wieder sitzen, möchte die Lehrerin über unseren Zirkus sprechen, und Emmi meldet sich sofort.
„Das Problem ist halt, dass viele Zirkustiere nicht artgerecht gehalten werden.” (…)
S. 35f.
„Gassigehen ist auch nicht artgerecht”, murmele ich. Das hat Onkel Sergio uns beigebracht, ich habe darüber nachgedacht und finde, es stimmt.
Es entspinnt sich ein Hin und Her über die Unterschiede von „tiergerechter” und „artgerechter” Haltung sowie Tierquälerei. Da diese Auseinandersetzung auch im weiteren Verlauf der Handlung immer wieder aufploppt, werden die Lesenden aufgefordert, über die einzelnen Standpunkte nachzudenken und selbst Position zu beziehen. Das zeigt, wie ernst Anna Maria Praßler ihre Leser:innen nimmt.
Die Form des Erzählens
Nicht nur inhaltlich entwirft die Autorin einen ungewöhnlichen Erzählkosmos, auch die von ihr gewählte Erzählform ist besonders. Anachronistisches Erzählen – was in diesem Fall nichts weiter bedeutet, als dass die Erzählung durch ständige Rückblenden unterbrochen wird – ist in der Kinderliteratur eher selten. Es ist anspruchsvoll und setzt eine gewisse Lesefertigkeit voraus. Anna Maria Praßler arrangiert ihre ständigen Rückblenden jedoch so clever, dass insgesamt eine für Kinder gut verständliche Erzählstruktur entsteht.
Auf der ersten Ebene finden wir ganz klassisch eine Erzählung vor, die die Geschichte chronologisch vorwärts über sieben Tage hinweg erzählt. Ausgangspunkt dieses Erzählstrangs ist die erste Nacht im neuen Haus.
Auf einer zweiten Ebene wird diese Chronologie durch Analepsen – also die oben bereits erwähnten Rückblicke in Form von Erinnerungen – unterbrochen. Diese Rückblenden sind typografisch durch eine hellere, serifenlose Schrift abgesetzt, wodurch den Lesenden die Orientierung erleichtert wird.
Diese beiden Erzählstränge laufen bis zum Ende hin aufeinander zu. Während der erste, vorwärts gerichtete Erzählstrang alles Neue erzählt und auf die Frage ausgerichtet ist, ob es Princess gelingt, Omas Boa zurückzubringen, erzählt der zweite Strang alles Vergangene und zielt darauf ab, was Princess denn so Schlimmes getan haben soll, dass sie und ihre Mutter den Zirkus verlassen mussten.
So zu erzählen, erfordert handwerkliches Geschick und zeigt Anna Maria Praßlers ganzes Können. Auch wenn die Rückblenden von den Lesenden ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit erfordern, um sich immer wieder zu vergewissern, auf welcher zeitlichen Ebene die Handlung gerade spielt, so ist die Handlung insgesamt gut zu verfolgen und flüssig erzählt. Das liegt nicht zuletzt an der lebendigen Figurengestaltung und der bildlichen und konsistenten Darstellung des Geschehens.
Für wen empfehle ich dieses Buch?
Dieses Buch richtet sich an Kinder, die gern realistische Texte lesen und sich für Freundschaftsgeschichten begeistern. Eine gewisse Lesefertigkeit sollte vorhanden sein. Der Text ist mit 224 Seiten recht umfangreich. Die lebendige Darstellung vom Zirkus und der Zirkusfamilie sowie die bunten Schilderungen vom Dorf und der dort lebenden Familien werden Kinder ab 10 Jahren ebenso ansprechen wie die Diskussionen rund um den Tierschutz.
(Heinke Ubben, 21.5.2024)
Rezensiert wurde:
Rettet Omas Boa! Mein Zirkus, das Dorf und ich
Anna Maria Praßler
Illustration: Felicitas Horstschäfer
Klett Kinderbuch: Leipzig 2023
ISBN: 978-3-95470-286-2
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