[Rezension]
Wer eine irre Geschichte sucht, die mit schnellem Strich gezeichnet ist, sollte „Snapdragon” von Kat Leyh (Übersetzung: Matthias Wieland) aus dem Verlag Reproduktion (2023) lesen. Die Graphic Novel besticht durch ein rasantes Tempo, das nicht zuletzt durch die farbigen und dynamischen Illustrationen und Panelübergänge erzeugt wird. Die Geschichte selbst muss im magischen Realismus – einer Kunstrichtung, in der übernatürliche Elemente selbstverständliche Teile der Realität sind – verortet werden, was schon auf den ersten Seiten deutlich wird:
Snap ist auf der Suche nach ihrem Hund Goodboy. Deshalb macht sie sich auf den Weg zu einer Frau, die in einem abgelegenen Haus mit verwildertem Garten wohnt und als Hexe verschrien ist. Sogar Tiere soll sie essen! Auf der Textebene weist Snap diese Gerüchte zurück. „Hexen gibt es nicht”, sagt sie. Doch die Bildsprache ist eine andere. Das heruntergekommene Haus im Wald, die Krähen und vor allem das Auftauchen der „Hexe”, die als dunkler Schattenriss mit erhobenem Spaten gezeichnet ist, sodass sie, wenn nicht als Tod persönlich, dann doch zumindest als Totengräber gelesen werden muss, sind Elemente aus dem Märchen, aus der Phantastik und/oder aus dem Horrorfilm. Das ist grandios gezeichnet und erzählt, zumal Snap eine sehr starke Mädchen-Figur ist, die nie ihr Selbstvertrauen und ihre positive Energie verliert.
Auffallend an dieser Graphic Novel ist, dass Snap ebenso wie die Hexe Jacks oder der queere Louis ihre Rollenzuschreibungen mit Selbstbewusstsein und Stolz tragen. Damit macht Kat Leyh Anderssein nicht zum zentralen Problem, sondern zum selbstverständlichen Teil der Erzählung. Das ist ungewöhnlich.
Die Geschichte ist bis zum Schluss spannend. Snap entdeckt immer mehr Details aus ihrer Familiengeschichte, die sich am Ende zu einem stimmigen Bild fügen.
„Snapdragon” ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden und steht auf der Auswahlliste zum Deutschen Kinder- und Jugendliteraturpreis 2024.
Inhaltsverzeichnis
Worum geht es?
Snap heißt mit vollem Namen Snapdragon, was übersetzt Löwenmaul bedeutet. Wie alle Mädchen in ihrer Familie ist sie nach einer Pflanze benannt worden.
Sie ist auf der Suche nach ihrem Hund Goodboy. Dabei begegnet sie Jacks, einer alten Frau, die von allen nur „die Hexe” genannt wird. Snap ist durch die kursierenden Gerüchte zunächst verunsichert. Doch die alte Frau, die früher Motorradrennen gefahren ist und heute Tierskelette konserviert, fasziniert sie. Als Snap bei einem toten Opossum dessen noch lebende Babys findet, will sie die Tierbabys unbedingt retten und rennt zu Jacks.
Jacks zeigt ihr, wie sie die Opossums aufpäppeln muss. Im Gegenzug hilft Snap Jacks bei ihrer Arbeit als Konservatorin. Frühmorgens sammeln sie auf der Landstraße tote Tiere von der Fahrbahn und vergraben sie nahe beim Haus, um dem natürlichen Verwesungsprozess seinen Lauf zu lassen.
Nach einigen Wochen buddeln sie die Knochen dann wieder aus und setzen sie zu Tierskeletten zusammen, die Jacks im Internet an Sammler:innen, Schulen oder (wissenschaftliche) Institute verkauft. Snap ist begeistert und geht ganz in dieser Tätigkeit auf.
Doch mit der Zeit fragt sie sich, ob Jacks nicht doch magische Fähigkeiten hat. Allerdings sind diese so ganz anders als die, die Snap aus Büchern oder Filmen kennt. Als Jacks sich eines Tages tatsächlich als Hexe zu erkennen gibt und Snap zeigt, wie sie ihre Magie einsetzt, gibt es für Snap kein Halten mehr. Das möchte sie auch lernen! So kommt es, dass Jacks Snap ins Hexendasein einführt.
Dass zwischen den beiden noch eine ganz andere Verbindung existiert, finden sie heraus, als Snap ein Foto entdeckt, das die queere Jacks mit Snaps Großmutter zeigt. Der sich daraus entwickelnde Erzählstrang ist toll und eröffnet nicht nur Snap neue Details ihrer Familiengeschichte.
Das Besondere an dieser Graphic Novel
Im Kern erzählt „Snapdragon” von alternativen Lebensentwürfen, -rollen und -bildern und damit von Menschen, die in ihrem Anderssein am Rand der Gesellschaft stehen und als „Hexen”, „Seltsame” und andere Außenseiter:innen verrufen sind.
Die Graphic Novel darauf zu begrenzen, wäre allerdings zu kurz gegriffen, denn neben den Identitäts- und Genderfragen werden noch zahlreiche andere Themen wie zum Beispiel Freundschaft, Familie, Mobbing oder Rassismus verhandelt.
Die Erzählung selbst steckt voller überraschender Wendungen, starker Figuren und vielfältiger Plotdetails, die von einer gelungenen Farbwahl und durch eine ausdrucksstarke Bildsprache unterstrichen werden.
Diverser Erzählkosmos
Die raue Snap, die exzentrische „Hexe” Jacks, aber auch der sensible Louis, der gern Röcke trägt und sich die Nägel lackiert, sind Figuren, die nicht den Normen und Erwartungen der Gesellschaft entsprechen. Auch wenn ihr Anderssein nicht per se den zentralen Konflikt der Geschichte ausmacht, wie ich weiter oben bereits erläutert habe, so geraten die Figuren doch immer wieder in Konflikte mit anderen. Da ist zum einen Snap, die sich zwar als Mädchen fühlt, sich aber nicht wie andere Mädchen kleidet und benimmt. Für ihre Mutter ist das normal, aber die Jungs in der Schule lachen über sie.
Allerdings nicht alle. Louis und sie kommen sich nach und nach näher und freunden sich an, als sie feststellen, dass sie beide Fans der Horrorfilme „Witch’s Hill” sind.
Bei Snap lernt Louis ganz und gar er selbst zu sein. Er nennt sich dort Lulu und beginnt Röcke zu tragen. Snap wundert sich nicht ein einziges Mal darüber; sie hinterfragt seine Wünsche auch nicht. Stattdessen gibt sie ihm aussortierte Teile aus dem Kleiderschrank ihrer Mutter.
Es ist großartig, wie sich die Figuren – und mit ihnen ihre Familien und Freund:innen – entwickeln. So wird zum Beispiel am Rande erwähnt, dass Lulus Vater sich Unmengen an Büchern zum Thema Transgender besorgt hat, worüber Lulu sich sehr freut. Auch Jacks verändert sich im Lauf der Geschichte. Und Snap? Na, die will ja ohnehin eine Hexe werden!
Magischer Realismus und Bildsprache
Die übernatürlichen Elemente sind dem Genre gemäß Teile der Realität dieses magisch-realistischen Erzählkosmos’. Sie werden von keiner Figur angezweifelt, müssen aber als Metaphern oder Symbole für Sozial- und Gesellschaftskritik gedeutet werden. Hexen wurden schon immer besondere Kräfte zugeschrieben, aufgrund derer sie von der Gesellschaft ausgegrenzt wurden. Dass eine solche Ausgrenzung queere und farbige Menschen besonders trifft, veranschaulicht diese Graphic Novel von Anfang an.
Den filmisch wirkenden Einstieg und die tolle Bildsprache zu Beginn, die sich selbstverständlich fortsetzen, hatte ich oben bereits beschrieben. Das Phantastische ist damit von der ersten Seite an Teil des Ganzen, ohne dass dadurch irgendwie ein Bruch entstünde.
Ich finde es beeindruckend, mit welcher Leichtigkeit Kat Leyh ihre vielfältigen Themen in die Erzählung integriert und den unterschiedlichen Figuren auch auf der Zeichenebene Charakter verleiht. Ihre Zeichnungen stecken voller Dynamik. Die von Anfang an geschaffene Atmosphäre des Unheimlichen wird auch durch ihre Farbwahl unterstrichen. Das ist ganz große Kunst.
Für wen empfehle ich dieses Buch?
Der Verlag empfiehlt das Buch ab 10 Jahren. Auf der Auswahlliste zum deutschen Kinder- und Jugendliteraturpreis 2024 ist es in der Kategorie „Jugendbuch” für Jugendliche ab 12 Jahren empfohlen. Beides sind Empfehlungen, die ich nachvollziehen kann, denn Bildsprache, Metaphern und Symbole werden nur Ältere entschlüsseln können, während die Geschichte selbst durchaus auch für Jüngere verständlich ist. Ich selbst hatte meine große Freude an der Graphic Novel und entdecke, je öfter ich sie lese, jedes Mal Neues. Das gefällt mir! Und deshalb kann ich euch allen „Snapdragon” als einen gelungenen „All-Ager” nur ans Herz legen.
(Heinke Ubben, 16.10.2024)
Rezensiert wurde:
Kat Leyh
Snapdragon
Übersetzung: Matthias Wieland
Reproduktion
Berlin 2024
ISBN 978-3-95640-386-6
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