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Abdriften

„Kompass ohne Norden” ist kein leichtes Buch, aber eines von denen, die mich nachhaltig beeindruckt haben. Neal Shusterman schildert darin aus der Sicht des 15-jährigen Ich-Erzählers Caden, wie dieser in eine schizophrene Episode abrutscht.

Das ist überaus beeindruckend!

Shusterman ist ein toller Schriftsteller. Außerdem kennt er sich mit schizo-affektiven Störungen aus, weil sein Sohn Brendan davon betroffen ist.

Worum geht es?

In Cadens Kopf beginnen die Grenzen zwischen Realität und Wahn zu verschwimmen. Anfangs äußert sich der Wahn noch als nicht-existente Bedrohung durch einen mysteriösen Mitschüler, durch Schlangen im Garten, die sich als Gartenschlauch entpuppen, oder durch unsinnige Fragen.
Doch bald schon entwickelt er eine Eigendynamik. Der Ich-Erzähler fühlt sich auf ein Schiff versetzt, das führerlos durch den Ozean manövriert. Hier sind alle Naturgesetze außer Kraft gesetzt. Als Leser:in fragt man sich ebenso wie der Ich-Erzähler, wohin diese Fahrt wohl führt.

Was ich fühle, lässt sich nicht in Worte fassen. (…)
Der Steuermann sagt, ich solle mir deswegen keine Gedanken machen. Er deutet auf den Pergamentblock, auf dem ich oft zeichne, um mir die Zeit zu vertreiben. „Halt deine Gefühle mit Strich und Farbe fest”, rät er mir. (…) „Du bist der Kompass, Caden Bosch. Du bist der Kompass!”
„Wenn ich der Kompass bin, dann bin ich ziemlich nutzlos”, antworte ich. „Ich kann Norden nicht finden.”
„Natürlich kannst du das”, sagt er. „Bloß dass sich der Norden in diesen Gewässern ständig in den Schwanz beißt.”

(S. 17)

Anfangs geht Caden noch zur Schule, aber seine Aufmerksamkeit lässt dort in demselben Maß nach, wie er auch zu Hause auffälliger wird. Seine Eltern bringen ihn zur Psychotherapie, dann schließlich in eine Klinik.

Erst im Verlauf der Geschichte wird deutlich, inwieweit die Realität auf der wahnhaft-fantastischen Ebene umgedeutet wird. Der Steuermann aus dem obigen Zitat zum Beispiel ist einer von Cadens Mitpatienten in der Klinik.

Am Ende lässt sich nicht alles zuordnen, vieles bleibt unklar. Mir hat das gut gefallen, weil sich ja auch ein wahnhafter Zustand nie vollständig erklären lässt.

Leseempfehlung

  • Ausgezeichnet mit dem National Book Award und dem Deutschen Kinder- und Jugendliteraturpreis 2019 in der Sparte „Jugendjury”.
  • Ein außergewöhnliches Buch voller Empathie.
  • Authentische Schilderung ohne Übertreibung oder Bagatellisierung.
  • Für alle, die mehr über psychische Erkrankungen und psychische Ausnahmezustände erfahren wollen.
  • Für alle, die ein großartiges Stück Literatur lesen wollen, das die Grenzen von Psychologie und Literatur überschreitet.

(Heinke Ubben, 13.12.2024)

Vorgestellt wurde:
Kompass ohne Norden
Neal Shusterman
Illustration: Brendan Shusterman
Übersetzung: Ingo Herzke
Hanser: München 2018
ISBN: 978-3-446-26046-7

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