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Das Cover des Romans "Popcorn süß-salzig" von Lena Hach

Faking Fake-Dating

In „Popcorn süß-salzig” erzählt Lena Hach von der feministisch orientierten Ruby, die sich vehement dagegen wehrt, Teil einer Liebesgeschichte zu werden, und mit allerlei Tricks versucht, die Genre-Regeln zu unterlaufen. Das ist nicht nur pfiffig gemacht, sondern auch ein kluges Spiel mit den literarischen Tropes, den Mustern und Regeln, dieses Genres.

Ruby hält es für einen Scherz, als ihr angeboten wird, die Fake-Freundin des sportbegeisterten Phil zu werden, um dessen Ex-Freundin eifersüchtig zu machen. Erstens findet die 16-Jährige solche Aktionen unsolidarisch gegenüber anderen Frauen, und zweitens klingt der Vorschlag, als wäre er Teil einer der Liebesgeschichten, die ihre Mutter schreibt. Phil bekommt also einen Korb, läuft ihr in den nächsten Tagen jedoch ständig über den Weg. Und Ruby muss feststellen: Ganz so übel ist Phil dann doch nicht. Nach und nach verbringen die beiden immer mehr Zeit miteinander.

Lena Hach stellt uns in „Popcorn süß-salzig” eine taffe Protagonistin vor, die überaus selbstbewusst und schlagfertig ist. Anders als in vielen anderen Romanen dieses Genres muss sie, die Protagonistin, nicht vom allseits beliebten Protagonisten gerettet werden; sie verwandelt sich auch nicht vom hässlichen Entlein in einen Schwan, nur um dadurch zu entdecken, wie beliebt sie ist. Nein, Ruby ist sich selbst genug und mit ihrem Leben eigentlich ganz zufrieden; gesundes Mittelmaß reicht ihr vollkommen.

Es ist bewundernswert, wie leicht Lena Hach die inhaltliche Ebene, auf der sie humorvoll eine Geschichte von Oberstufen-Schüler:innen erzählt, mit der metatheoretischen Ebene, auf der sie Ruby gegen die Regeln der romantischen Komödie anrennen lässt, miteinander verwebt. Angesichts dieses doppelbödigen Spiels und der von Lena Hach so meisterhaft beherrschten Situationskomik musste ich an sehr vielen Stellen herzlich lachen.

Mein Urteil: „Popcorn süß-salzig” ist nicht nur gute Unterhaltung, sondern auch gute Literatur!

Inhaltsverzeichnis

Worum geht es?

Auf dem Weg zu Bio fängt Guillaume Ruby ab. Sie kennt ihn eigentlich kaum und ist mehr als überrascht, als er ihr anbietet, die Fake-Freundin seines besten Freundes Phil zu werden. Oh, nein! Ein solches „Fake Dating” kennt Ruby aus den Romanen, die ihre Mutter schreibt, zur Genüge. Es geht immer gleich aus. Deshalb lehnt sie dankend ab.

Aber so leicht gibt Guillaume nicht auf. Mittags in der Mensa unternimmt er einen zweiten Anlauf, um Ruby von den Vorteilen einer Fake-Freundschaft mit Phil zu überzeugen. Doch Ruby lässt sich nicht beirren. Sie schnappt sich eine Gurke und eine Karotte von ihrem Rohkost-Teller und veranschaulicht Guillaume, wie Gürkchen und Karotti einen Fake-Dating-Deal schließen, der natürlich dazu führt, dass Karottis Ex-Freundin ihn auf einmal wieder richtig hot findet, während Gürkchen und Karotti feststellen, dass sie Gefühle füreinander entwickelt haben.

„Ich hab’s verstanden”, sagt er. „Die beiden kommen zusammen. Immer?”
„Immer”, sage ich. „Das ist quasi das Gesetz beim Fake Dating.”
Guillaume kratzt sich an der Nase. „Aber was ist da das Problem?” (…)
Kurze Zeit später weiten sich seine Augen. (…) „Du magst Mädchen?”
Na klar. In Guillaumes Welt ist das natürlich die einzige Erklärung.
„Ba-damm”, mache ich. „Leider falsch.”
„Okay”, sagt Guillaume. „Aber was zur Hölle ist dann dein Problem? Alle anderen würden sich freuen, wenn sie mit Phil-”
Ich unterbreche ihn, bevor er diesen fürchterlichen Satz zu Ende sprechen kann.
„Das Problem ist”, sage ich (…), „dass Phil einfach nicht mein Typ ist.” Und damit beiße ich Karotti genüsslich ins Hinterteil.

S. 20f.

Eigentlich ist die Angelegenheit für Ruby damit erledigt. Doch seltsamerweise taucht Phil in den nächsten Tagen an allen möglichen und unmöglichen Orten auf. Zuerst stößt sie mit ihm im Schulsekretariat zusammen, dann verheddert sie sich mit ihrem Schal und Phil wird zu ihrem Retter, und schließlich realisiert sie, dass sie bereits seit Schuljahresbeginn mit ihm zusammen im Physikkurs ist. Zu allem Übel muss er sich auch noch auf einem Schulausflug im Bus neben sie setzen, weil er in letzter Minute kommt und dies der einzige freie Platz ist. Aber Ruby beschließt, diesem „Stuck Together” einen Strich durch die Rechnung zu machen, setzt sich imaginäre Kopfhörer auf und wendet sich ab. Doch – zack! – steht er in der Mensa schon wieder hinter ihr. Ruby ist diese ganze Aufmerksamkeit, die Phil in ihrem Leben bekommt, nicht geheuer. Und dann müssen ausgerechnet Phil und sie gemeinsam ein Referat halten.

Wirklich verzweifelt ist Ruby nicht, denn dazu ist sie einfach nicht der Typ. Das Einzige, was sie zur Verzweiflung bringt, ist die Wahl ihrer Leistungskurse. Ruby kann sich einfach nicht entscheiden, obwohl die Abgabefrist längst überschritten ist. Entscheidungen zu treffen ist für sie das Schlimmste. (Selbst bei Popcorn fällt es ihr schwer. Süßes Popcorn wäre die klassische und damit sichere Variante, salzig eine interessante Alternative.)

Umso schöner wäre es, wenn ihre Freund:innen jetzt ein bisschen mehr Zeit für sie hätten. Leider steckt Jara, ihre beste Freundin, kopfüber in den Vorbereitungen für einen Mensa-Streik, und Matteo verbringt seine Zeit fast ausschließlich mit seiner neuen Freundin. Auch ihre Mutter, der Ruby eigentlich alles erzählt, ist nicht wirklich hilfreich, denn sie tüftelt an einem neuen Exposé.

Aber wie es die Genreregeln so wollen: Je mehr Zeit Phil und Ruby miteinander verbringen, desto besser lernen sie sich kennen. Und plötzlich gibt es Gemeinsamkeiten, die auch Ruby faszinieren. Aber ist es wirklich Liebe?

Erst am Ende klärt sich, ob Lena Hach nach all dem „Will They – Won’t They” Ruby und Phil ein „Happy End” gönnt oder doch – wie schon etliche Male zuvor – gekonnt die Genre-Regeln unterläuft. Ihr dürft gespannt sein!

Das Besondere an diesem Roman

Mich fasziniert, wie Lena Hach in diesem Roman Illusionen von Wirklichkeit schafft, nur um sie kurz darauf wieder einzureißen. Das ist ganz große Kunst! Immer wieder unterwandert die Autorin die Bedeutungen des Textes, wodurch Widersprüche und Paradoxien entstehen, die Ruby in neue Konflikte stürzen. Dazu reiht Lena Hach Klischee an Klischee und überspitzt und ironisiert die Muster und Regeln der romantischen Komödie.

Das Spiel mit dem Genre

Was braucht es für ein solches Spiel?

  1. Eine selbstbewusste Protagonistin wie Ruby, die die literarischen Regeln der romantischen Komödie im Schlaf aufsagen kann und sich an der einen oder anderen Stelle selbst ertappt, wenn sie sich wie eine blöde Romcom-Figur verhalten hat.
  2. Einen Love-Interest, der zu der angesagten Sportler-Gang gehört, dann aber doch nicht von solchem Interesse ist, wie andere es erwarten. Siehe Punkt 3.
  3. Die beliebte Sportler-Gang aus den klassischen Highschool-Romanen, zu denen in dieser Geschichte Guillaume und Phil zählen.
  4. Eine beste Freundin wie Jara, die immer Traubenzucker in der Tasche hat – zum Trösten, zur Ermutigung, zum Aufbauen, je nach Anlass.
  5. Den besten Freund wie Matteo, der immer liebenswert und hilfsbereit ist, ein echter „Cinnamon roll” eben.
  6. Eine Mutter, die ein freundschaftliches Verhältnis zu ihrer Tochter pflegt, ihr von ihrer Arbeit als Autorin erotischer Romanzen erzählt und ihre Tochter deswegen auch schon mal um Rat bittet.
  7. „Running gags”, also sich wiederholende Elemente, die in Bezug auf die Handlung wenig Bedeutung haben, aufgrund ihrer Wiederholung aber zu Späßen mit Wiedererkennungswert werden. (Zum Beispiel nennt Guillaume Ruby immer wieder „Rosie”. Die oben bereits erwähnten imaginären Kopfhörer setzt sich irgendwann auch Phil auf. Und hin und wieder fallen bestimmte Formulierungen, die andere Figuren später aufnehmen.)
  8. Klischees, die mal aufgegriffen, mal konterkariert werden. (Ein Klischee ist zum Beispiel, dass Ruby kein Mathe mag. Ärgerlich, aber nicht zu ändern. Umso besser behauptet sie sich auf einem ganz anderen Feld: Sie hat nämlich ein enormes Wissen über Sexualität und den weiblichen Körper. Rubys unverkrampfter Umgang mit diesem Thema führt zu witzigen Szenen, die ihren Mitschülern – ja, es sind tatsächlich nur die Jungs – die Röte ins Gesicht treiben. Aber wer eine Mutter hat, die erotische Geschichten schreibt – siehe Punkt 6 -, ist hart gesotten.)
  9. Eine Autorin mit einer großen Portion Humor, die die Regeln des Genres und des Schreibens noch besser beherrscht als ihre Protagonistin und dicht an ihrer Zielgruppe dran ist.
  10. Und noch so einiges mehr, aber das weiß die Autorin am besten, siehe Punkt 9.

Das Spiel mit der Wirklichkeit

Mit Ruby, ihrem Hang zu ausgefallenen Klamotten und ihrer scharfen Kombinationsgabe hat Lena Hach eine liebenswerte und authentische Figur geschaffen, die eine gesunde Distanz zu Liebesgeschichten hat. Ruby weiß, dass sich „das, was in Liebesromanen oder Liebesfilmen passiert, nicht eins zu eins auf das echte Leben übertragen” (S. 22) lässt. Mehr noch, sie ist sogar davon überzeugt, dass dieses Genre – wenn es als Abbild von Wirklichkeit gelesen wird – falsche Erwartungen weckt, die besonders dann peinlich werden, wenn Menschen sich mit „Grand Gestures” wie öffentlichen Liebeserklärungen hervortun.

Es ist nicht nur witzig, wie Ruby die sogenannten Tropes, die Regeln und Muster, von Liebesgeschichten entlarvt, sondern auch klug arrangiert. Auf diese Weise macht Lena Hach die Kritik am Genre zum Teil des Inhalts. Das ist Dekonstruktion vom Feinsten, denn die Unterscheidung zwischen dem, was der Text impliziert, und dem, was die Figur daraus macht, verschwimmt. Und ganz nebenbei begreifen wir Lesenden: Wirklichkeit lässt sich nicht abbilden. Sprache ist metaphorisch, d.h. sie arbeitet mit Bildern, Mustern und Regeln, was auch in den Randbemerkungen immer wieder deutlich wird, wenn dort Begriffe wie „Tropes”, „Fake Dating”, „Plot-Twist” oder „Wingman” erklärt werden.

Die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit

Dieses Spiel mit der Frage nach den Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion treibt Lena Hach im Verlauf des Romans auf die Spitze. Als Rubys Mutter die Geschichte, die sich zwischen Ruby und Phil anzubahnen beginnt, für ihren eigenen Jugendroman verwenden will, fühlt Ruby sich benutzt und verraten, was ihre Mutter in ihrem Eifer nicht realisiert oder nicht realisieren will.

Natürlich ist das Verhalten der Mutter auf der Wirklichkeitsebene des Romans, also aus Rubys Sicht unverzeihlich. Gehen wir von dort aus allerdings noch einen Schritt weiter, dann ergibt sich für die Rezipient:innen unmittelbar die Frage: Aber wie entsteht Fiktion dann? Auch Lena Hach erzählt in „Popcorn süß-salzig” ja keine vermeintlich wahre Geschichte ihrer vermeintlichen Tochter. Sie hat sich diese Episode nur ausgedacht, weil sie ihr zentrales Thema vorantreiben möchte. Und damit wären wir wieder da, wo wir begonnen haben: Wirklichkeit lässt sich nicht abbilden, und Romane spiegeln keine Wirklichkeit wider. Romane folgen zunächst einmal Regeln und Mustern, um eine Geschichte zu erzählen, die wahlweise unterhaltsam, spannend, eskapistisch o.Ä. ist. Im besten Fall regen Romane ihre Leser:innen in einem weiteren Schritt zum Nachdenken an und fordern sie zur Auseinandersetzung mit bestimmten Fragestellungen heraus.

Für wen empfehle ich dieses Buch?

„Popcorn süß-salzig” ist ein leicht lesbarer, unterhaltsamer Roman und darüber hinaus ein überaus gelungenes Beispiel für ein Spiel mit literarischer Dekonstruktion, ohne dass irgendein:e Lesende:r diesen (Fach-)Begriff kennen müsste. Der Verlag empfiehlt das Buch ab 12 Jahren, ich persönlich würde es wegen der älteren Protagonist:innen und seines Themas eher der Zielgruppe zwischen 13 und 17 Jahren zuordnen.

(Heinke Ubben, 10.7.2024)

Rezensiert wurde:

Popcorn süß-salzig
Lena Hach
Mixtvision: München 2024
ISBN: 978-3-95854-214-3

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