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Coverbild des Romans "Kollektorgang" von David Blum

„Kollektorgang“ von David Blum

Das vielfach ausgezeichnete Buch „Kollektorgang” von David Blum (Beltz & Gelberg 2023) lag schon lange auf meinem Lesestapel. Die Geschichte hat mich tief berührt. Auf nur 128 Seiten zeichnet David Blum eine Welt voller (rechter) Gewalt und Sehnsüchte in einer ostdeutschen Plattenbausiedlung der Nachwendezeit. Sprachlich fand ich das Buch fantastisch.

Zentral ist der titelgebende Kollektorgang, ein Versorgungstunnel, der die Plattenbauten miteinander verbindet. In ihm verlaufen Wasserleitungen, Stromkabel und vieles mehr. Die einzelnen Kollektorgänge sind miteinander verbunden. Im Roman sind sie nicht nur zentrale Schauplätze, sondern auch Symbole für verborgene Abgründe.

Eine Besonderheit dieser Erzählung ist die im Jugendbuch eher selten gewählte Perspektive: Mario, ein 13-jähriger Junge, erzählt seine Geschichte aus dem Grab heraus.

Inhaltsverzeichnis

Worum geht es?

Mario ist tot. Mit einer Mischung aus Melancholie, Sarkasmus und poetischer Klarheit blickt er auf sein Leben zurück. Von Anfang an wissen wir Leser:innen um Marios Schicksal, doch von den Umständen seines Todes erfahren wir erst nach und nach.

Ihr kennt mich nicht. Es ist nicht leicht, sich einen Namen zu machen, wenn man keine vierzehn Jahre alt ist. Man ist doch stark eingeschränkt, wo ich bin, es mangelt an Gelegenheiten. Ich habe viele kennengelernt, die hart für ihren Ruhm gearbeitet haben – trotzdem hat man sie vergessen. Keiner honoriert, was sie geleistet haben. Erst werden Sträuße auf ihr Grab geworfen, dann kommt niemand, um die vertrockneten Blumen fortzuräumen.

(S. 8)

So beginnt die Geschichte.

Kaleidoskopartig wechseln sich solche Szenen aus dem Jenseits, wo Mario mit einem anderen Toten namens Hoffmann sprechen kann, mit Berichten aus seinem Leben ab. Diese Erzähltechnik erzeugt eine Spannung, die mich bis zur letzten Seite gefesselt hat.

Hoffmann liegt neben ihm begraben. Er war früher ein spießiger Beamter und kann deshalb auch von seinen Erlebnissen in der DDR berichten.

Mario erzählt ihm seine Geschichte im Rückblick: In der Plattenbausiedlung, in der er aufgewachsen ist, war nie viel los – bis er und seine Freunde, darunter der aus Jugoslawien stammende Rajko, einen unterirdischen Versorgungstunnel entdecken. Dieser Stollen wird zu ihrem Rückzugsort. Die Situation eskaliert, als Nicki, der Anführer einer rechtsradikalen Jugendgang, den Tunnel für sich beansprucht und vor allem Rajko aufgrund seiner Herkunft zur Zielscheibe von Nickis rassistischer Gewalt wird.

Das Besondere an diesem Roman

Ein Porträt der Nachwendezeit

David Blum zeichnet ein ebenso schonungsloses wie einfühlsames Bild der Nachwendezeit. Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und die Abwesenheit der Eltern prägen den Alltag der Jugendlichen. In dieser trostlosen Umgebung versucht Mario, seinen Platz zu finden. Er ist ein sensibler Junge, der sich durch seine Schüchternheit und Intelligenz von seiner Umgebung abhebt. Doch gerade diese Andersartigkeit macht ihn verletzlich.

Gesellschaftskritik und Aktualität

„Kollektorgang” auf eine Coming-of-Age-Geschichte reduzieren zu wollen, greift allerdings zu kurz. Der Roman ist gleichermaßen eine literarische Warnung vor den Gefahren rechter Radikalisierung und sozialer Ausgrenzung.

David Blum verknüpft historische Bezüge – etwa durch die Erwähnung des Sinto-Boxers Johann „Rukeli” Trollmann im Nachwort – mit aktuellen Themen wie Fremdenfeindlichkeit und Flucht. Diese zeitlose Relevanz macht den Roman zu einem wichtigen Beitrag zur deutschen Gegenwartsliteratur.

Erzählungen, die die Nachwendezeit thematisieren, gibt es in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur bisher nur wenige – insbesondere von ostdeutschen Autor:innen. Der Autor ist 1983 in Potsdam geboren und dort auch aufgewachsen. Die 90er Jahre waren also seine eigene Jugendzeit.

In dieser Erzählung verknüpft er seine eigenen Erfahrungen mit den Entwicklungen der Nachwendezeit und dem damaligen Umgang mit den Flüchtlingen aus dem Jugoslawienkrieg. Wie feindselig das damalige Umfeld war, auf das die geflüchteten Sinti und Roma in den 90er Jahren trafen, erinnern wir alle noch sehr lebendig aufgrund der brutalen Anschläge auf die Flüchtlingsunterkünfte in Rostock-Lichtenhagen.

Die Situation von Sinti und Roma

Sinti und Roma sind nur selten Protagonist:innen in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. (Eine Ausnahme ist das auf diesem Blog besprochene Kinderbuch „Rettet Omas Boa! Der Zirkus, das Dorf und ich” von Anna Maria Praßler.) Rajkos Familie kommt aus Jugoslawien. Woher genau, wird nicht erwähnt.
Der einzige Hinweis auf das Land ihrer Herkunft ist ein rot-weißes Tuch, das auch auf dem Cover zu sehen ist. Ema, Rajkos Schwester, in die sich Mario verliebt hat, hat es von ihrer Großmutter in Kroatien bekommen.

Rajkos Familie ist unerwünscht und fremd in diesem Land. Rajko fühlt sich verloren und missverstanden. Einerseits möchte er dazugehören, andererseits seine Unabhängigkeit bewahren. Dennoch Rajko ist kein hilfloses Opfer. Wie den oben erwähnten Trollmann macht David Blum ihn zum Boxer und damit wehrhaft.

Sprache und Stil

David Blums Sprache ist knapp und bildhaft. Mit wenigen Worten fängt er komplexe Emotionen und Situationen ein. Der Ton des Romans ist von schwarzem Humor durchzogen, der die düstere Thematik auflockert, ohne sie zu verharmlosen.

Auszeichnungen und Preise

  • Peter-Härtling-Preis 2023
  • Amadeu-Antonio-Preis 2023 (2. Preis)
  • Shortlist Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis 2023
  • Shortlist Korbinian – Paul-Maar-Preis 2023
  • Sächsischer Bücherkoffer des Sächsischen Literaturrats, Frühjahr 2023
  • Die besten 7 Bücher für junge Leser, Juni 2023 (Deutschlandfunk)
  • Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium 2024
  • Leipziger Jugend-Literatur-Jury Favoriten 2024

Wem empfehle ich dieses Buch?

David Blum hat mit „Kollektorgang” ein anspruchsvolles Buch geschrieben, das gleichermaßen verstört und berührt. Die Geschichte ist außergewöhnlich und entspricht nicht dem Mainstream, den man überall kaufen kann.

Ich empfehle den Roman allen Jugendlichen ab 14 Jahren und allen Erwachsenen, die eine besondere Geschichte über die Nachwendezeit und die Gefahren, die mit rechter Gewalt einhergehen, lesen möchten.

(Heinke Ubben, 8.5.2025)

Rezensiert wurde:
David Blum
Kollektorgang
Beltz & Gelberg: Weinheim 2023
128 Seiten
ISBN: 978-3-407-75734-0

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