[Rezension]
Bevor sich der Winter kalendarisch verabschiedet, möchte ich euch ein ganz besonderes Buch vorstellen: „Morris. Der Junge, der den Hund sucht” von Bart Moeyaert (Hanser 2024). Wie viele von euch vermutlich wissen, zählt der Belgier Bart Moeyaert zu den bedeutendsten Kinder- und Jugendbuchautor:innen unserer Zeit. 2019 wurde er mit dem Astrid Lindgren Memorial Award ausgezeichnet.
Mit „Morris” hat er ein literarisches Juwel geschaffen, das sich jeder Alterskategorisierung entzieht. Es ist kein klassisches Kinderbuch, kein Bilderbuch, keine Literatur für Erwachsene, sondern Kunst, die durch ihre literarische Sprache und Erzählweise besticht. Mit nur wenigen Worten schafft Moeyaert eine eindringliche Atmosphäre und einen komplexen Erzählkosmos, der sich an Leser:innen zwischen 6 und 99 Jahren richtet.
Inhaltsverzeichnis
Worum geht es?
Die Geschichte handelt von Morris, einem Jungen zwischen vermutlich zehn bis zwölf Jahren (genau wird es nicht gesagt), der bei seiner Großmutter in den verschneiten Bergen lebt. Warum er dort lebt, ist unklar. Aber die melancholische Grundstimmung deutet auf einen Verlust hin. Morris’ Aufgabe ist es, Houdini, den Hund seiner Großmutter, immer wieder einzufangen, wenn dieser ausbüxt. Diese Tradition des Weglaufens und Suchens wird zur Metapher für Morris’ eigene Suche nach Zugehörigkeit und Heimat.
Das Buch beginnt mit einer Anrede an ein „Du”, das hinausgehen soll, um einen Schneemann zu bauen.
Das ist harte Arbeit. Aber – ah! – wenn er erst mal fertig ist!
Und beklag dich bloß nicht. Da kommen deine Mutter und dein Vater schon.
„Hier sind deine Fäustlinge, mein Schatz. Nachher gibt es Pfannkuchen, Waffeln und Apfelkuchen. Dazu machen wir heißen Kakao mit Zimt und Schlagsahne. Aber jetzt drücken wir dich erst mal, komm mal her, komm mal her.”
Was für ein Glück du hast.
Richtig viel Glück.
Fast so viel Glück wie Morris.(S. 13)
Aber hat das angesprochene „Du” wirklich „fast so viel Glück wie Morris”?
Das soll am Ende jede:r für sich selbst entscheiden.
Doch was ist das eigentlich – Glück?
Was macht dieses Buch so besonders?
Die Suche nach Glück und Verlust
Das Buch setzt sich auf subtile Weise mit Glück und Verlust auseinander. Die Frage: „Was ist Glück?” zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Morris hat seine Großmutter, die ihn liebt, und damit eine Beziehung, die ihm Geborgenheit gibt. Gleichzeitig spürt man seine Einsamkeit und Traurigkeit überaus deutlich. Die Begegnung mit Max, einem fremden Jungen mit seinem Schafbock auf dem Berg im Schneesturm, bringt Hoffnung und zeigt die Kraft von Freundschaft.
Minimalistische Erzählweise
Moeyaert erzählt minimalistisch und lässt viele Fragen offen – eine bewusste Entscheidung. Statt alles auszuformulieren, fordert er die Leser:innen dazu auf, die Leerstellen selbst zu füllen. Diese erzählerische Zurückhaltung beeindruckt und hebt das Buch von der Massenware ab. Bettina Bach hat Moeyaerts poetische und zurückhaltende Sprache hervorragend ins Deutsche übertragen. Die Figuren sind mit wenigen Strichen gezeichnet, doch ihre Präsenz ist stark: Morris’ Großmutter strahlt Liebe aus, während der „Nichtsnutz” Randy Peg düster und bedrohlich erscheint.
Moeyaerts künstlerischer Anspruch
In einer Online-Veranstaltung der „Akademie für Kinder- und Jugendliteratur” am 3. Februar 2025 sagte Moeyaert, er lege großen Wert darauf, dass Literatur Fragen stelle, statt Antworten zu geben. Deshalb sei es ihm auch wichtig, die Kinder selbst entscheiden zu lassen, was sie aus der Geschichte mitnehmen wollen. Literatur ist Literatur, Kunst ist Kunst. Beim Schreiben habe er vor allem darauf geachtet, dass sich Kinder mit Morris identifizieren können: Morris’ Gefühle – seine Trauer, seine Sehnsucht und seine Stärke – sollten universell und zeitlos sein.
Großartige Illustrationen
Die farbigen Illustrationen von Sebastiaan Van Doninck ergänzen den Text perfekt. Sie sind suggestiv und lassen Raum für Interpretationen – genau wie Moeyaerts Worte. Die Bilder fangen die winterliche Atmosphäre zwischen schroffen Felsen und krummen Tannen ein und verstärken so die emotionale Wirkung des Buches.
Wem empfehle ich das Buch?
„Morris” ist ein literarisches Kleinod, das durch seine poetische Sprache, seine tiefgründigen Themen und seine meisterhafte Erzählkunst besticht. Das Buch ist eine anspruchsvolle Reise in die Gefühlswelt eines Jungen auf der Suche nach Liebe und Zugehörigkeit. Für alle Leser:innen ab ca. 6 Jahren bis ins Erwachsenenalter, die das Besondere mögen.
(Heinke Ubben, 12.3.2025)
Rezensiert wurde:
Bart Moeyaert
Morris. Der Junge, der den Hund sucht
Illustration: Sebastiaan Van Doninck
Übersetzung: Bettina Bach
Hanser: München 2024
ISBN: 978-3-446-28117-2
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